engels: Wie kamt ihr auf die Idee, Obdachlosen zu helfen?
Johanna Thomé (JT): Unsere Mutter hat auf Facebook mitbekommen, dass eine ihrer Bekannten Essen verteilt. Dann haben wir überlegt, wie wir auch helfen können. Am Mittwoch, dem 25.3., sind mein Bruder und unsere Mutter mit selbstgekochtem Essen in die Stadt. Ab dem Freitag haben wir das dann täglich gemacht. Dean und ich kamen ohnehin recht frisch aus einem Flüchtlingslager, in dem wir humanitäre Hilfe geleistet haben. Vielleicht brauchen wir dieses Aktiv-sein.
Warum wart ihr in einem bosnischen Flüchtlingslager und was habt ihr dort erlebt?
Dean Blažević (DB): Ich wollte wissen, wie es an der EU-Außengrenze zugeht. Ich habe dort die Abschottung von Europa, viel Grenzgewalt und die absolute Dehumanisierung von Leuten ohne europäischen Pass erlebt – auch Folter. Ich habe Leute nackt im Schnee von der Grenze zurückkommen sehen. Es war und ist für mich schwierig, zu akzeptieren, dass so etwas passiert. Das hat mir den Antrieb gegeben, etwas zu machen, worin ich einen Sinn sehe.
JT: 2015 war ich in einem Flüchtlingslager in Palästina. Danach habe ich in Irland Migranten Englischunterricht gegeben und danach bin ich zu Dean ins Flüchtlingslager in Bosnien. Wir haben in einer improvisierten Klinik in einem illegalen Flüchtlingslager gearbeitet. Kurz vor dem Beginn der Corona-Krise, im März, habe ich mit obdachlosen Flüchtlingen in Sarajevo gearbeitet, musste wegen Corona aber frühzeitig abreisen.
Engagement für Schwächere ist in eurer Familie nicht ungewöhnlich. Johanna, dein Vater ist z.B. der Gründer des Vereins Tacheles, der Hartz-IV-Empfängern bei Konflikten mit dem Jobcenter hilft. Inwiefern ist dieser familiäre Hintergrund für euer Handeln mitverantwortlich?
JT: Die Werte, die uns vermittelt wurden, sind ganz, ganz wichtig: antirassistisch und antifaschistisch zu sein und für andere Leute einzustehen: die Selbstverständlichkeit von Solidarität. Ich wäre froh, wenn ich meinen zukünftigen Kindern diese Werte auch weitervermitteln könnte. Natürlich weiß man nie, wer man mit anderen Eltern geworden wäre und wir bekommen momentan viel Unterstützung von unseren Eltern.
Was bekommt ihr vom Leben Obdachloser mit – ganz unabhängig von Corona?
JT: Aus vielen Gesprächen wissen wir: Es ist furchtbar in verschiedensten Facetten. Man wird ignoriert, angespuckt, als Frau vergewaltigt. Und ich habe mitbekommen, dass der Support hier sehr schlecht ist. Es gibt keine ausreichenden Strukturen, z.B. zu wenige Notunterkünfte. Ein Problem ist auch, dass Wuppertal zwei Stadtzentren hat und die Tafel in Barmen stärker aktiv ist. Als Elberfelder kommst du da ohne Ticket nicht hin. Distanzen von über einem Kilometer sind für die Meisten aus ihrem Radius. Man muss die Leute auf der Straße dort abholen, wo sie sind und eine hohe Zugänglichkeit bieten. Es gibt normalerweise den Tafelwagen, aber der ist zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort. Manche kriegen das nicht hin. Viele finden es auch demütigend, sich da anzustellen. Es gibt wohl auch eine lose Sozialarbeiterstruktur und es gibt die Drogenhilfe Gleis 1. Dort kann man Frühstück, Mittagessen und auch ärztliche Hilfe bekommen.
Wie hat sich die Situation nun durch Corona verschlechtert?
JT: Konkret kommt der Tafelwagen nicht mehr. Der bedeutete von Montag bis Freitag, beständig, über Jahre, eine feste warme Mahlzeit am Tag. Wir haben gefragt, ob die Bettel-Einnahmen sich verringert haben. Die Aussagen lauteten eher „Nein, es gab zwar weniger Leute auf der Straße, die dann aber oft mehr gegeben haben.“
DB: Es gab auch negative Folgen für die Psyche: In Gleis 1 gibt es ein Begegnungscafé, in der Diakoniekirche auch. Ich habe gehört, dass auch die Konsumräume zu sind und da normalerweise ca. 60 Leute morgens vor der Türe stehen. Das alles fällt jetzt weg.
JT: Während des Shutdowns waren die Straßen total leer und das führte zu einer krassen Vereinsamung.
DB: Es passieren aber auch schöne Sachen: Es passiert uns so gut wie jeden Tag, dass jemand sieht, wie wir Essen verteilen und uns dann Kohle in die Hand drückt. Das ist mega-cool.
JT: Viele Leute sagen, dass sie toll finden, was wir machen und bieten dann auch ihre Hilfe an.
Findet ihr, dass man sich in Wuppertal in diesen Zeiten gut um Obdachlose kümmert?
JT: Es gibt zu wenig Essensangebote und insgesamt zu wenig Struktur. Und ich finde es einfach billig, dass sich die Stadt nun auf zwei Mittzwanziger verlässt und selbst keinen Finger rührt. Inzwischen können wir ihnen immerhin unsere Rechnungen schicken. Wenn man sich die gesamten Ausgaben der Stadt anguckt, ist das aber praktisch nichts. Es ist schlimm, dass man sich so auf die Tafel verlässt und eine große Stadt wie Wuppertal es nicht hinkriegt, sich vernünftig um die Menschen zu kümmern. Es sind sehr viele betroffen, weil Wuppertal eine arme Stadt ist – nicht nur Obdachlose, sondern auch sonstige Bedürftige wie Hartz-IV-Empfänger, die von den Tafelwagen-Essensausgaben abhängig sind.
Wie habt Ihr es geschafft, euer Hilfsangebot zu organisieren?
JT: Ein Fahrrad haben wir vom Foodsharing ausgeliehen. Während des ersten Monats hatten wir noch ein privates Fahrrad mit zwei Satteltaschen und einen großen Rucksack. Vor ca. einem Monat haben wir noch ein Fahrrad von den Grünen bekommen. Wir haben es in deren Büro gesehen und dann gefragt, ob wir es ausleihen dürfen. Sie haben dann gleich zugesagt und uns noch kleine Wasserflaschen zum Verteilen gespendet und sich im Stadtrat für uns eingesetzt. Außerdem bekommen wir sehr viele Sachspenden, von Foodsharing und von der Tafel. Die Kooperation mit der Tafel ist das Wichtigste. Davor hatten wir mit der Färberei zusammengearbeitet. Die hatten immer Extraportionen für uns gekocht. Allerdings mussten wir das Essen abholen, was umständlich war, weil wir beide kein Auto fahren. Dann sind wir auf den Vorsitzenden der Tafel zugegangen, der das Projekt gleich total toll fand und alle erdenkliche Hilfe angeboten hat. Seitdem bekommen wir unter der Woche 50 Portionen am Tag und ohne die Tafel hätten wir auch keine Kekse, Schokolade, Limonade, Kaffee, Obst und solche zusätzlichen Sachen. Sie liefern uns alles, was wir brauchen und sie da haben. Diese Zusammenarbeit läuft super, weil sie es uns auch täglich ans Haus liefern. Wir benutzen den Lagerraum von Tacheles und die Küche von „Wo Gine kocht“, einem Imbiss, der auch mit Tacheles verbunden ist. Wir haben außerdem noch viele Privatleute, die hinter uns stehen: Leute, die Fahrten machen, Leute, die für uns kochen; und wir haben eine Klamottenbeauftragte, denn mit dem Kinderschutzbund verteilen wir auch Klamotten. Und in sozialrechtlichen Fragen arbeiten wir mit Tacheles zusammen: Einigen Leuten helfen wir beim Hartz-IV-Antrag, bei Behördensachen oder anwaltlichen Sachen. Unsere Kooperationspartner sind also Privatleute, die Tafel, Tacheles, die Grünen, Foodsharing und der Kinderschutzbund.
Kocht ihr noch immer selbst?
JT: Ja. An Wochenenden und Feiertagen. Heute hat zum Beispiel unsere Mutter wieder gekocht. Auch Dean kocht oft und gut. Seine Freundin und ich machen zum Beispiel Obstsalat oder Kuchen: Wir versuchen, zu verarbeiten, was wir von der Tafel kriegen. Es macht auch Spaß, personalisierte Sachen zu machen: Wenn jemand keinen Reis mag, kann er Nudeln bekommen, wer keinen Käse mag, bekommt ein Wurstbrot und Muslime möchten es halal, oder jemand ist allergisch gegen etwas. Ich weiß teilweise auswendig, wie viel Zucker jemand in seinem Kaffee möchte. Für uns ist es wichtig, dass wir mehr sind als nur Essensverteilung, sondern auch mit den Leuten quatschen und versuchen, für sie da zu sein. Eine Frau malt sehr gerne und hat von uns Stifte bekommen. Und wer ein Kissen braucht, bekommt ein Kissen. Inzwischen haben sich Freundschaften entwickelt und wir werden auch gefragt, wie es bei uns läuft. Es ist also nicht nur eine Service-Leistung. Die Menschen sind uns nicht egal.
Spürt ihr Dankbarkeit?
JT: Die Reaktionen der Leute sind einfach das Süßeste: Sie haben uns die „Engel auf Rädern“ getauft. Es hieß schon „Ihr seid vom Himmel gefallen – ich hatte Hunger, weil ich seit zwei Tagen nichts gegessen habe und genau dann kommt ihr“ oder „Warum macht ihr sowas? Ich kann nicht glauben, dass Menschen so gut sein können“ Solche Aussagen wiederholen sich. Sie können häufig nicht glauben, dass ihnen sowas passiert. Ich sehe das aber als selbstverständlich an. Es geht uns um die Menschen.
DB: Ich mag es nicht, Engel genannt zu werden, weil ich definitiv kein Engel bin. Auch ich habe schon genug Sachen gemacht, die nicht cool waren. Ich mache es halt, weil es jemand machen muss. Und ich mache es unheimlich gerne.
Erfahrt ihr viel durch den täglichen Kontakt von den Obdachlosen?
JT: Ja. Ich rede sehr gerne mit ihnen. Es ist schön, ihre Perspektive kennenzulernen. Es sind einfach nette Menschen. Es gibt zwar ein paar Chaoten, die komisch drauf sind, wenn sie zugedröhnt sind, aber zu 99 Prozent sind die Leute megafreundlich.
DB: Und es stecken oft harte Schicksale dahinter, dass sich z.B. die Schwester umgebracht hat. Oder ich habe jetzt schon mit drei ehemaligen Soldaten geredet, die im Krieg waren und die mit einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht klargekommen sind. Hinter jedem besoffenen Typen da oben steckt ein Schicksal.
JT: Ich denke mir oft „Ach du Scheiße, haben wir Glück gehabt.“ Es ist krass, was die Leute für Geschichten haben.
Welche politischen Forderungen habt ihr?
JT: Es ist ein systemisches Problem, nicht nur hier: Der Staat sieht sich nicht in der Verantwortung, Leuten mehr Hartz IV zu zahlen. Als Konsequenz müssen viele Leute zur Tafel gehen. Die ist nicht staatlich, sondern finanziert sich durch Spenden. Ich finde es unverantwortlich, dass die Tafel das überhaupt machen muss – und dass, wenn die Tafel – wie jetzt – wegfällt, irgendwelche Mittzwanziger einspringen müssen. Ich finde, der Sozialstaat wäre in der Verantwortung, aber er zieht sich sehr geschickt raus – weil er es kann, weil es Leute gibt, die die Aufgabe übernehmen. Hartz IV müsste also erhöht werden. Und in Wuppertal konkret sollten Obdachlosen ein guter Wasserzugang, mehr Essen und mehr Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden. Es werden auch mehr Menschen benötigt, an die sich Obdachlose wenden können.
DB: Ich finde es einfach peinlich, dass so etwas wie Corona passiert und die Unterstützung für die Ärmsten einfach wegbricht und eine Stadt wie Wuppertal da nichts macht. Wir kriegen das mit einer Hand voll Leute hin. Es ist lösbar mit Kleingeld.
Wie seht Ihr die Zukunft eures Projektes?
JT: Ewig werde ich persönlich das Ganze nicht tragen können, denn ich habe ein Vollzeitstudium, einen Job und bin nur noch knapp drei Monate in Wuppertal. Wir merken schon, dass es uns belastet. Aber wir merken auch, dass wir es machen müssen, denn wer macht es sonst? Wir machen so lange weiter, wie es geht. Auf lange Sicht wäre es cool, wenn die Tafel Ihren Service wieder aufnehmen könnte. Unser Plan ist aber, den Kontakt trotzdem aufrecht zu erhalten und die Leute zu treffen und ein bisschen zu versorgen. Wir haben ja auch Freundschaften geschlossen.
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