Unternehmertum in Coronazeiten. Der Neoliberalismus schafft an sozialen Errungenschaften ab, wo es nur geht, und sackt Fördergelder in Milliardenhöhen ab. Gleichzeitig ist das Vermummungsverbot aufgehoben. Und in der Wuppertaler Oper fragt sich das Theater, was passieren würde, wenn hier ein kruder Macher, quasi eine Mixtur aus Friedrich Engels und Jeff Bezos auf eine Kommune mit Schwebebahn losgelassen wird? Gesungen wird nicht, aber Abstand gehalten auf Deubel komm raus (Insiderwitz: der sitzt ja bekanntlich in der Kuppel über uns) und mit Mundnasenschutz versteht sich. Martin Kindervater inszeniert „Die Weber“ von Gerhard Hauptmann, losgelöst aus einen Raumzeitkontinuum, eingebettet in die aktuellen Debatten über das verdammte Prekariat, die unverschämte Schere zwischen Arm und Reich und die anhaltende Cleverness, die Massen ruhig zu halten. Dabei wird der naturalistische Hauptmann fast zur Nebensache, denn heute wird nicht mehr gelitten wie vor dem Weberaufstand im 19. Jahrhundert. Essen liegt immer in den Überfluss-Containern der Supermärkte. Insofern spult das soziale Drama flüssig an der virtuellen Oberfläche entlang. Einzelfiguren tragen das Demonstrative am Geschehen, alle Figuren bleiben zweidimensional wie die Bildschirme der Smartphones.
Die Reichen überteufeln die besten Christen
Kindervater weitet die Bühne per Video bis hin zum Engelsgeburtshaus. Da wird beim Entree bereits klassisch gefiedelt im Obergeschoss, Szenen in der „Dreißiger-Villa“ gibt’s per Handkamera,John Lennons „Working Class Hero“ wird zur unterlegten Sinnhaftigkeit, die bis zur Rammstein-Variante reicht. Nichts ist eben gewiss, ob Weber oder Paketbote, in dauernden Geschlechterrollenwechseln und doch lieber die Anpassung – die unsichtbare Ausbeutung in der heute die Masse lebt, wird clever gemanagt. Wie heißt es im Stück: Die Reichen überteufeln die besten Christen. Jaja. Aber irgendwann regt sich doch der Widerstand, denn Widerstand ist nie zwecklos.They hurt you at home and they hit you at school. Da hilft kein Betteln und Flehen, da werden die Gelbwesten übergestreift und das Land lahmgelegt, bis das Militär kommt.
Modernisierung mit Mundart
Das satte Klerikale wird erschlagen, das böse Reiche muss fliehen, sein Haus dem Erdboden gleichgemacht. So ist der Mob eben, wenn er bis aufs Blut gereizt wird. Kindervater hält sich auch in der Revolte zurück, die allenfalls hinter der Bühne Krawalllautstärke erreicht, die armen Hütten vorne blieben recht still, viele sind zu schwach um zu kämpfen. Schon beim Blick hinter die Kulissen der XXX Logistik (Motto: Mit System. Relevant) war der vorgedrehte Film sein probates Mittel, die Handvoll Spielorte für 100 Minuten zusammenzukneten. Das riesige, durch das inklusive Schauspielstudio erweiterte Ensemble kann der „Modernisierung“ mit eingeworfener schlesischer Mundart (nur die Armen sprechen natürlich die gemeine Zunge) standhalten. Warum die Dreißiger-Skulptur wie Saddam Husseins Denkmal auf dem Firdaus-Platz fallen muss, keine Ahnung – irgendwas ist ja immer.
Schlimmer: In Deutschland ist die Zeit für soziale Revolten vorbei, es müpfelt allenfalls gegen Maskenpflicht und Fahrverbote. Und am Ende der Inszenierung wieder der alte Hilse. Ist es wirklich so, dass die Religion dazu da ist, dass die Armen die Reichen nicht killen?
Die Weber | R: Martin Kindervater | 19.12. 19.30 Uhr | Opernhaus, Wuppertal | 0202 563 76 66
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