Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
16 17 18 19 20 21 22
23 24 25 26 27 28 29

12.581 Beiträge zu
3.811 Filmen im Forum

Romeo und Julia im nebeligen Nirgendwo
Foto: Uwe Schinkel

Das antiseptische Denkmal der Liebe

30. September 2020

„Romeo und Julia“ im Opernhaus – Auftritt 10/20

Irgendwo im nebeligen Nirgendwo eilen sieben Touristen durch eine Stadt namens Verona, ihre Gesichter durch weiße Masken entstellt, mit geschlechtslosem Eimerhut und Schirm bewaffnet, ab und zu gefriert die Schar zum Standbild hinter einem durchsichtigen Screen, auf dem später Großaufnahmen der Protagonisten und gewalttätige Straßenkämpfe in Paris zu sehen sein werden. Diese Brutalität ist der Nährboden für die ewige Vendetta zweier verfeindeter Familienclans in Norditalien, der sich niemand entziehen kann. Shakespeare machte aus diesem Bodensatz seine Tragödie um Liebe im Niemandsland zwischen den Fronten: Romeo und Julia stehen seitdem auf und vor der Bühne für die in Stein gemeißelte Macht des Eros.

Melange aus unterschiedlichen Visualitäten

Der französische Theaterregisseur Nicolas Charaux mischt bei seiner Inszenierung der Gesine Danckwart-Fassung in der Wuppertaler Oper die ewige Kausalität zum Tod geschickt mit antiken Philosophen, zeitgenössischen Assoziationen und – weil die Premiere im März wegen Corona abgesagt werden musste – mit aktuellen Pandemiebezügen. Dazu sind die Geschlechter um das zentrale Paar herum nicht immer protagonistenkonform. So entsteht eine Melange aus höchst unterschiedlichen Visualitäten, die in einem finalen Akt der Bildhauerei kulminieren.

Zuerst aber versucht der Fürst von Verona erst einmal der Gewalt Herr zu werden, verbietet die handgreifliche Auseinandersetzung und bedroht die Widersacher mit dem Tod. Doch dem jugendlichen Maskenball scheint das nichts anzuhaben, Messerstechereien und Prügel gehörten schon damals zum Selbstverständnis der Bildungslosen. Immer im Dunklen, dazu quasi entpersonifiziert, aber dialogisch in von Leuchten erhellten Portrait-Großaufnahmen am Videoscreen, reiht Charaux die Szenen des Dramas aneinander, es darf auch mal wieder geraucht werden.

Beim Night Out bei den Capulets trifft Romeo dann endlich Julia im Spotlight, versinkt in seiner entrückten Traumwelt, vergisst altes Begehren, den Kampf der Familien, Freunde, Feinde, seine Maske. Julia erwidert sein Werben und darf fürderhin auch ohne Mund-Nasenschutz durch die skurrile heutige Welt. Einschub: Aristophanes erzählt uns von den Kugelmenschen und wie wir wurden, was wir sind, nämlich von Zeus in zwei Hälften gehackte mythische Wesen, die immer wieder versuchten zurück zum zweiköpfigen, vierfüßigen Leben zu finden – und sei es nur für die kurze Zeit der Kopulation zwischen den Geschlechtern. Das sei, so Platon im Februar 416 v. Chr, die einzige Ursache für die Entstehung des erotischen Begehrens. Na ja, vielleicht war es zu kalt damals im Februar in Athen.

Corona-Ballett im Aerosolnebel

Der Videoscreen fährt jedenfalls hoch, die Bühne ist frei, nur eine beleuchtete Treppe führt in den Abgrund. Die Bühne bleibt der Darkroom, jeder braucht eine Leuchte. Pater Lorenzo wird jetzt zur zentralen Figur, zum Lenker durch die Unaufhaltsamkeit. In der nicht vorhandenen Zelle, dafür aber auf monströs desinfizierten Plastikstühlen wird die fixe antiseptische Hochzeit zelebriert, ohne Kuss (NRW-Corona-Schutzverordnung von 1.9.) versteht sich. Regisseur Charaux nutzt dankenswerterweise seine Chance zur mächtigen Persiflage bis in den Ozonschrank plus Corona-Ballett im Aerosolnebel. Es folgt das Tragische, von Mord, Verbannung, Zaubertrank bis in die starke letzte Szene, wo das verschlungene Liebespaar den Tod verweigert und in Unterwäsche solange mit weißem Schaum besprühen bis sie zu ihrem eigenen steinernen Denkmal geworden sind. 

Romeo und Julia | R: Nicolas Charaux | 8., 9.10. 19.30 Uhr, 1.11. 18 Uhr | Opernhaus | 0202 563 76 66

PETER ORTMANN

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Mufasa: Der König der Löwen

Lesen Sie dazu auch:

„Macht und Machtspiele“
Intendant Thomas Braus über die neue Spielzeit am Wuppertaler Schauspiel – Premiere 09/24

„Giftmord als Kammerspiel ist immer willkommen“
Regisseur Roland Riebeling über „Arsen und Spitzenhäubchen“ am Schauspiel Wuppertal – Premiere 11/23

„Zu Theater gehört Wagnis und Experiment“
Intendant Thomas Braus über die neue Saison am Schauspiel Wuppertal – Premiere 08/23

„Wir wollen eine Art Geisterbahn bauen“
Anne Frick über „Dream on – Stadt der Träume“ in Wuppertal – Premiere 05/23

„Jede starke Komödie ist tragisch“
Maja Delinić über „Der Revisor“ am Schauspiel Wuppertal – Premiere 03/23

Überhörte Warnschüsse
„Die drei Schwestern“ in Wuppertal – Prolog 06/22

Bühnenluft per Podcast
Sherlock Holmes: „Das Tal des Grauens“

Revolte gegen Pakete-Engels
„Die Weber“ von Gerhard Hauptmann in der Oper – Auftritt 11/20

Wie immer ist kein Pferd zu finden
Henri Hüster inszeniert Shakespeares Richard III. – Auftritt 06/19

Das Treibhaus mit geiler Klimaanlage
Sex-Fantasien in der Friedhofsgärtnerei: Peter Wallgram inszeniert „Der Drang“ – Auftritt 05/19

Schattenspiel der Rüstungsindustrie
Esther Hattenbach inszeniert Christoph Nußbaumeders „Im Schatten kalter Sterne“ – Auftritt 04/19

Ewiger Krieg gegen den Fahrtwind
„Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm“ im Theater am Engelsgarten – Auftritt 11/18

Bühne.

HINWEIS