engels: Herr Borke, an der Hochschule Magdeburg-Stendal Hochschule wird unter anderem der Studiengang „Angewandte Kindheitswissenschaften“ angeboten. Worum geht es da?
Jörn Borke: Bei diesem Studiengang geht es darum, die Bedürfnisse von Kindern in einem breiteren soziologischen, pädagogischen und psychologischen Kontext zu erkennen, also zum Beispiel Kinderrechte zu stärken, Institutionen für Kinder auszubauen oder die Bedürfnisse für Kinder stärker in die Politik zu tragen. Mein eigener Arbeitsschwerpunkt liegt aber eher woanders: Ich bin vor allem in der Lehre in kindheitspädagogischen Studiengängen tätig. Dabei geht es unter anderem um einen akademisierten Weg zur Ausbildung von Personal in Kindertageseinrichtungen. Ein Weg, der in vielen Ländern gegangen wird und auch in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Welche Vorteile ergeben sich durch eine akademische Ausbildung?
Eine akademische Ausbildung bietet angehenden Erzieherinnen und Erziehern die Möglichkeit, ihre eigene Herangehensweise nach wissenschaftlichen Standards zu hinterfragen und Bezüge zu pädagogischen Theorien herzustellen. Doch die Aufwertung des Kita-Personals muss gar nicht zwingend akademisch sein. Wichtig ist auch, dass die pädagogischen Herausforderungen bei der Betreuung von Kleinkindern, von der Gesellschaft mehr wahrgenommen werden. Das findet in der Tat in neuerer Zeit auch statt: Früher hat man gerne gesagt, dass vor allem Frauen diesen Job quasi intuitiv übernehmen können, da es im Vorschulalter sowieso nur um eine reine Kinderbetreuung geht. Heute ist man sich der Bedeutung der frühkindlichen Bildung bewusster. Das spiegelt sich auch in neuen Aufgabenbereichen, etwa der Inklusion und in diesem Rahmen auch im Umgang mit kultureller Vielfalt in Kindertageseinrichtungen.
Sie haben ein Projekt zur Kultursensitiven Frühpädagogik mitentwickelt. Was ist das?
Der kulturelle Kontext in dem Kinder aufwachsen hat einen wichtigen Einfluss auf ihr soziales Handeln. Wenn man in einer deutschen Großstadt aufwächst kann das ganz anders sein als z.B. einem afrikanischen Dorf. In dem Team von Frau Keller an der Universität Osnabrück haben wir viel Feldforschung unter anderem in Dörfern in Kamerun betrieben. Dort spielt die Eingliederung der Kinder in die Familienhierarchie eine wichtige Rolle. In westeuropäischen städtischen Kontexten wird dagegen viel Wert darauf gelegt, dass die Kinder frühzeitig eine selbständige und unabhängige Persönlichkeit entwickeln. In Kitas ist immer eine (mal mehr oder weniger ausgeprägte) kulturelle Vielfalt vorhanden, da nie alle in den komplett gleichen Kontexten aufgewachsen sind. Dies kann Fachkräfte vor Herausforderungen stellen, da hier dann unterschiedliche Herangehensweisen und Erfahrungen aufeinander treffen. Die kultursensitive Frühpädagogik will hier den Kindern und Eltern behutsam Brücken bauen. Zum Beispiel kann ein Kind, das gerade neu nach Deutschland gekommen ist und aus einem Kontext kommt, in dem eher vorgegebene Angebote in der Pädagogik üblich sind, mit Selbstbildungsangeboten überfordert sein. Hier bedarf es flexibler Herangehensweisen, um anschlussfähig an unterschiedliche kulturelle Modelle von Kindern und Eltern sein zu können.
Wann entwickelt ein Mensch seine Identität?
Zum einen gibt es genetische Grundlagen, durch die gewisse Spielräume der Entwicklung abgesteckt werden. Sehr bedeutsam ist aber auch das erste Jahr: Fühlt sich ein Kind nach seiner Geburt angenommen und geliebt? Dadurch entsteht Vertrauen in die Welt und in sich selbst und eben auch eine gute Grundlage für das weitere Leben. Es bestehen gute Chancen, darauf aufbauen zu können.
Man kann also bei kleinen Kindern sagen, wie sie als Erwachsene sein werden?
In gewissem Maße schon: Manche Erwachsenen werden sich daran erinnern, dass sie schon als Kind bestimmte Eigenschaften, etwa Hibbeligkeit, hatten, die sie auch als Erwachsene an sich beobachten. Und auch hier gilt, es gibt gewisse Vorgaben, die genetisch mitgegeben werden. Bei der Intelligenz ist es z.B. so, dass diese zu 50 Prozent vererbt und zu 50 Prozent erworben wird. Man erbt einen gewissen Korridor von seinen Eltern. Ob man dann aber einen höheren oder niedrigeren IQ als diese Eltern entwickelt hängt dann von Umwelterfahrungen ab, aber der Spielraum, in dem man sich dabei bewegen kann, ist festgelegt. Dass die genetische Ausstattung sowie die Erfahrungen der frühen Kindheit eine große Bedeutung haben, heißt aber nicht, dass wir uns nicht noch bis ins hohe Alter weiterentwickeln und verändern können. Wichtige Impulse gehen oft von unvorhergesehen Ereignissen aus, im Negativen etwa von schweren Schicksalsschlägen, aber auch im Positiven durch soziale Begegnungen und Liebe. Generell ist es immer möglich, sich zu entwickeln, es ist nur nicht immer gleich leicht und schnell möglich.
Was halten Sie von Eltern, die ihr Kind schon im frühen Alter fördern wollen, etwa durch mehrsprachige Erziehung?
Dies kann eine gute Unterstützung sein, und grundsätzlich ist nichts gegen etwas einzuwenden, was das Kind nicht unangenehm stresst und überfordert und was seiner Neugierde entspricht. Wichtig ist, dass alles kindgerecht ist. Aber manchmal fördern Programme nicht unbedingt das, was durch sie gefördert werden soll. Manche Eltern gehen zum Beispiel davon aus, es würde ihrem Kind helfen, wenn man bereits früh damit beginnt, englischsprachige Lieder zu singen. Dies schadet natürlich nicht, aber damit das Kind später einen Vorteil im Englischunterricht hat, müsste es schon regelmäßig mit einem Muttersprachler sprechen. In der Regel bieten ein anregungsreiches Umfeld im normalen Alltag und zugewandte Bezugspersonen zentrale Grundlagen für eine gute Entwicklung.
Frühkindliche Bildung spielt auch in der Politik eine zunehmende Rolle. Jüngst wurde das Adoptionsrecht für Homosexuelle diskutiert. Was halten Sie davon?
Es gibt aus meiner Sicht eindeutig nichts, was dagegen spricht. Entscheidend ist, was die Eltern machen und wie sie mit dem Kind umgehen und welche Erfahrungen sie ihm ermöglichen und nicht, welche sexuelle Orientierung sie haben oder in welcher Familienkonstellation sie leben.
Ein anderes Thema ist der Ausbau der U3-Betreuung. Wie ist hier Ihre Meinung?
Da muss man sich anschauen, wie die Betreuung genau stattfindet. Gerade bei kleineren Kindern ist ein guter Betreuungsschlüssel, also ein gutes Verhältnis zwischen ErzieherInnen und Kindern, essentiell, als einer der Qualitätsfaktoren. Auch gibt es Unterschiede zwischen den Kindern: Manche Kinder sind bereits mit wenigen Monaten robust genug, um längere Zeit von ihren Eltern getrennt zu sein. Anderen fällt dies vielleicht schwerer. Die Frage ist also, wie eine Krippe sein sollte und nicht, ob eine U3-Betreuung generell sinnvoll ist.
Kommen wir zur Persönlichkeit von Kindern zurück. Es gibt den rechtlichen Begriff von der Unmündigkeit von Kindern. Ist das nicht eine sehr künstliche Perspektive?
Im Prinzip schon, das zeigt sich schon daran, dass die Schwelle der Volljährigkeit, mal bei 21, mal bei 18 Jahren lag. Das ist ein gesellschaftlich festgelegtes Alter, für das es auch gute Gründe gibt, das aber eben auch immer wieder überdacht werden kann, da sich die Gesellschaft auch verändert. Allgemein ist der Übergang zwischen Erwachsen- und Kindsein eher fließend. Manche Kinder und Jugendliche können ziemlich erwachsen sein und umgekehrt ist ein bestimmtes Alter noch kein Kriterium dafür, erwachsen zu sein.
Bedeutet das auch, dass man Kinder stärker in gesellschaftliche Prozesse integrieren soll?
Ich finde es wichtig, dass diese Diskussion geführt wird. Und es gibt spannende Modellprojekte, bei denen die Meinung von Kindern bei bestimmten politischen Fragen eingeholt wird. Allerdings finde ich es auch hier wichtig, dass dieser Prozess immer kindgerecht stattfindet und man Kinder nicht überfordert. Ein Beispiel aus dem häuslichen Umfeld. Eine Familie möchte die Selbstbestimmung der Kinder stärken, und lässt sie über das nächste Urlaubsziel entscheiden. Das ist natürlich prinzipiell gut aber zu viele Mitentscheidungsmöglichkeiten können Kinder auch mal überfordern, und da kann es für sie auch mal entspannt sein, wenn hier jemand für sie plant.
Welchen Rat geben Sie besorgten Eltern?
Sich Sorgen um sein Kind zu machen, ist grundsätzlich eher ein gutes Zeichen, da es zeigt, dass die Eltern beobachten und sich auch hinterfragen. Ich habe lange Zeit in einer Babysprechstunde gearbeitet, wo viele besorgte Eltern Rat gesucht haben. In den meisten Fällen konnten wir ganz schnell beruhigen und entlasten. Eltern dürfen da durchaus Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben. Es ist auch wichtig, dass sie sich Unterstützung suchen, wenn sie an ihre Grenzen kommen. Kurz gesagt: So lange man seinem Kind Liebe, Aufmerksamkeit und Zeit gibt und an seine Zukunft glaubt, gibt man ihm auch eine gute Grundlage für das Leben.
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