Wann begann die Fotografie malerisch zu werden? Auch unter dem Anspruch des Dokumentarischen bewegte etliche der Fotograf:innen im 19. Jahrhundert die Frage, wie der Zeitgeist und die verschiedenen Kunststile einfließen könnten. Vor allem im Fin de Siècle und um die Jahrhundertwende spiegeln die Präraffaeliten und der Jugendstil, der Symbolismus und der Japonismus Entwicklungen in der Gesellschaft wider, sei es die anthroposophischen Bewegungen, das Aufkommen der Psychologie oder eine neue Sicht auf die Natur. Die Kunst spitzt zu und die Fotografie findet dafür eigene Wege. Sie streift über das Wasser und entdeckt den Wald, verweist auf antike Mythologien, verzichtet auf den Menschen und wendet sich der Nacht zu. Traum und Realität verschwimmen, die Geschehnisse werden unscharf geschildert, mitten im Dunkel oder Nebel. Zeitgleich etabliert sich der Gummidruck als malerisches Verfahren des Abzugs. Von all dem berichtet nun im Neusser Clemens Sels Museums eine Foto-Ausstellung, die zugleich von Meisterwerken der Malerei um 1900, dem Schwerpunkt des Museums, begleitet wird.
Die Ausstellung macht nicht nur mit bestimmten Motiven, Verfahren und Strategien der frühen Fotografie vertraut, sondern stellt auch Persönlichkeiten wie Julia Margaret Cameron mit ihren Porträts oder Edward Steichen und Eufène Druet mit ihrer Auseinandersetzung mit der Skulptur vor. Und sie unternimmt den Transfer in die Fotografie der Gegenwart, die verschärft experimentell an die Malerei und Fotografie um 1900 anschließt, diese zitiert und weiterdenkt. Da sind die Landschaften mit verblichenen Farben von Elger Esser; die Schärfe-Unschärfe-Relationen in der Natur von Thomas Wrede; die Dynamisierung des Sehens und die Entschleunigung der Erinnerung bei Thomas Ruff. Auf den tiefenräumlichen, fast monochromen Tafeln von Dunja Evers sind Häupter gerade noch sichtbar, und auf dem Pigmentdruck von Alessandro Ruzzier strahlt inmitten nächtlicher Finsternis ein Haus grün. Das Schöne bei all diesen Bildern ist noch, wie sehr das Sehen Zeit braucht, und das ist hier ein Vergnügen.
Foto – Kunst – Foto | bis 23.2. | Clemens Sels Museum Neuss | 02131 90 41 41
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