Auf schonungslose Weise vermaß Tennessee Williams in seinen Stücken bevorzugt die schmerzhafte Strecke zwischen Ideal und Wirklichkeit neu und erzählte, wie Glück, Liebe und Leidenschaft in bittere Desillusion münden, wie sich unterdrückte Wahrheit irgendwann mit Gewalt Bahn bricht. So wie in „Endstation Sehnsucht“, dessen ungeheure emotionale Wucht vielen durch die Lektüre des Buches oder auch die Verfilmung bekannt ist: Früher gehörte ihre Familie zum Südstaaten-Geldadel, jetzt sind die Reste des Familienbesitzes der Schwestern DuBois verscherbelt. Als Blanche DuBois (Sophie Basse) außerdem ihren Job als Lehrerin verliert, quartiert sie sich bei ihrer jüngeren Schwester Stella (Anne-Catherine Studer) ein. Stella lebt mit Stanley Kowalski (Holger Kraft), einem polnischen Einwanderer, eine lustvoll-zerstörerische Liebe, die Blanche, die sich trotz ihres sozialen Abstiegs als etwas Besseres inszeniert, irritiert und elektrisiert.
Sex, Lügen und Psychodrama
Euphemistisch ausgedrückt ist sie eine Meisterin in der Vorspiegelung falscher Tatsachen. Salopp gesprochen ist sie eine dreiste Lügnerin, was Stanley und seine Buddies schnell durchschauen. Es kommt zur Katastrophe.
Auf die Frage, worum es in „Endstation Sehnsucht“ geht, antwortete der Autor: „Nun, ich glaube, es ist ein Plädoyer für das Verständnis zerbrechlicher Menschen.“ Der zerbrechlichste Mensch ist Blanche – jemand, der „zwischen Extremen changiert“, wie Schauspielerin Sophie Basse die Figur beschreibt. Zwischen psychischer Labilität, Begierde, Alkoholismus und Hysterie pendelt diese vom Autor als „alternde Südstaaten-Schönheit“ beschriebene Frau, die gleichzeitig für Prinzipien wie Bildung und Kultur steht. „Sie lügt aus Angst. Weil sie die Realität ihrer Lebensumstände nicht ertragen kann“, sagt Sophie Basse. „Die Herausforderung besteht für mich wie so oft im Theater darin, diese Figur glaubhaft und nachvollziehbar in all ihrer Schizophrenie zu zeigen.“
Im Kern geht es bei „Endstation Sehnsucht“ um die Psychologie des Einzelnen, beschreibt Dramaturg Sven Kleine das Stück. „Das Entscheidende wird die Skizzierung der unterschiedlichen Lebensentwürfe sein“, weniger geht es bei der Inszenierung um die alte, rückwärtsgewandte Welt der Südstaaten oder Einwandererprobleme im prosperierenden Amerika der 1950er Jahre. Die Aktualität besteht für ihn darin, aktuelle Konfliktlinien beispielsweise als die unterschiedlichen Vorstellungen eines glücklichen Lebens zu zeigen. Was auch immer Glück sein mag. Wo auch immer Konflikte lauern.
Wie das Private öffentlich wird
Blanche beispielsweise mit ihrer bizarren Vergangenheit ist eine unkonventionell Lebenslustige, die jenseits des bürgerlichen Korsetts ihre individuelle Freiheit finden will. Tägliche Absurditäten und dämonische Ängste werden als nuanciertes Spiel dargestellt, und vielleicht ist es auch ein bisschen Kleines Einmaleins, wenn die nur um sich kreisende Blanche das magische Zweieck von Stella und Stanley („Stella liebt Stanley, ist ihm sexuell verfallen und wartet den ganzen Tag darauf, sich in seine Arme werfen zu können. Das ist ihr Glück“, umreißt Anne-Catherine Studer das Verhältnis) durchbricht, eine Mesalliance wie Hecht und Specht mit Stanley anstrebt – und ihre letzte Hoffnung als Doppelpack mit Mitch (Lutz Wessel) sieht. „Das birgt doch enorm viel Konfliktpotential“, so Sven Kleine. Und wer Vorgänger-Inszenierungen Claudia Bauers kennt, ahnt: Wie das Private gnadenlos an die Öffentlichkeit gezerrt wird, dieses Gärende der Figuren inklusive ihrer Träume zu zeigen, wird das Besondere der Inszenierung sein. Shakespeares Unheilsstück „Macbeth“ fußte bereits auf diesem heutigen Verständnis biographischer Punkte und der distanzlosen Sichtbarmachung stiller Sehnsüchte. Auch Brechts „Dickicht der Städte“ inszenierte Paar-Spezialistin Bauer in Wuppertal als modernen Marktplatz Suchender, die neben aller Profit- und Gefallsucht heimlich träumen, aber scheitern müssen, weil sie selbst um diese zarten Gefühle mit harten Bandagen kämpfen.
Das Spiel mit dem Glück
Als „spitzfindig und großartig“ beurteilt Sven Kleine diese Regiehandschrift, wie Claudia Bauer mit der ihr eigenen Ästhetik zerstörerische Kräfte und neuralgische Punkte von Beziehungen rasant entfaltet. Als „hart, aber herzlich und immer wieder an seine eigenen Grenzen stoßend“, skizziert Sophie Basse die Zusammenarbeit mit der Regisseurin. „Humor ist ihr wichtig“, und so berühren die Abgründe und Sehnsüchte der Protagonisten auf besondere Art die Zuschauer bei der Betrachtung eigener idealistischer Lebensentwürfe und tatsächlicher Lebensumstände.
„Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams I R: Claudia Bauer I Opernhaus Wuppertal I 24.2.(P)/1./3./17./24.3., 19.30 Uhr I 0202 569 44 44
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