Halb zehn in Deutschland. Nicht irgendwo, sondern auf einem Pausenhof in Wuppertal. „Fick Dich, du Spacko!“ „Komm her, ich hau dir eins auf’s Maul!“ „Arschloch, was hast du für ein Problem?“ „Du hast meinen kleinen Bruder umgehauen!“ „Der hat mich beleidigt!“ „Dafür kriegst du auf die Fresse!“ Dieser unerbauliche Dialog fand nicht an irgendeiner Schule statt sondern an einem Gymnasium. Die Kommunikationsstile verschiedener jugendlicher Subkulturen, so mag dieses Beispiel belegen, haben sich in hohem Maße angepasst. Gangsta-Rap und Reality-Shows der Privatsender werden von Jugendlichen aller Schichten konsumiert. Insofern kann eine junge Frau, die mit ihrem eigenen cremefarbenen Mini-Cooper zum Gymnasium fährt, unter Umständen den gleichen Wortschatz pflegen wie der 13-jährige Hauptschüler aus bildungsfernen Schichten. Im Unterricht kann und wird sie anders reden, auf dem Schulhof allerdings sind die Sitten auch an Oberschulen rau. Zumindest aber, so ist eher anzunehmen, werden die rauen Sitten nachgespielt, ohne die Drohgebärde, die in solchen Dialogen steckt, wirklich auszuleben.
Jugendliche lernen nichts, so ein gutgehegtes Vorurteil der Alten. Bezüglich der Lerninhalte, die Schule früher vermittelte, mag dies vielleicht sogar zutreffen. Wenn es darum ginge, Cäsars Standartwerk ins Deutsche zu übersetzen, Goethes Glocke zu rezitieren oder die lateinischen Namen aller Skelettknochen aufzusagen, wären die Gymnasiasten der Adenauerzeit den heutigen Schulabsolventen haushoch überlegen. Aber in vielen anderen Bereichen wären die einstigen Pennäler im direkten Vergleich mit den Kids von heute völlig lebensuntüchtig. Trotz der gelegentlich etwas robusten Umgangsform gelingt an unseren Schulen verhältnismäßig problemlos, dass verschiedenste Kulturen nebeneinander existieren können. Damals hingegen waren die Jungs und Mädchen getrennt voneinander in unterschiedlichen Lehranstalten untergebracht, eingeklemmt in fest montierte Schulbänke, die sprichwörtlich gedrückt wurden. Das dreigliedrige Schulsystem garantierte die Reproduktion der Klassengesellschaft. Inzwischen müssen sich Jugendliche verschiedener sozialer Herkunft auf der Gesamtschule miteinander arrangieren. Gelernt wird in Hufeisen-Sitzordnung oder wie im Kindergarten im Stuhlkreis. Gelernt wird inzwischen auch viel voneinander, nicht mehr in Form des Frontalunterrichts. Da das Wissen der Menschheit explosionsartig zunimmt, wird es immer schwerer, aus dem Überangebot die Inhalte auszuwählen, die ein Jugendlicher zwingend lernen muss, die also Allgemeinwissen sind. In der digitalen Welt kommt es ohnehin nicht in erster Linie darauf an, Wissen auswendig zu lernen. Wichtiger ist es, inhaltliche Verknüpfungen erstellen zu können, Informationen kritisch bewerten und einordnen zu können und neue Fragen stellen zu können. Form und Inhalt des Lernens hat sich also in den letzten 50 Jahren radikal gewandelt.
In vielen Bereichen sind die Jugendlichen ihren Eltern wissenstechnisch überlegen. In subkulturellen Szenen sprechen Jugendliche eine völlig eigenständige Sprache. Welcher Erwachsene kann schon die Textfragmente entziffern, die die jungen Leute per Facebook oder Whatsapp von sich geben. Wenn Eltern mit ihrem digitalen Mobiliar Probleme haben, dann rufen sie nicht mehr den Elektroinstallateur sondern klopfen verschämt an die Kinderzimmertür. All diese Fähigkeiten haben sich minderjährige IT-Spezialisten mitnichten im Unterricht aneignen können. Hilfe durch Selbsthilfe ist die Devise. Und Hilfe durch Vernetzung. Das, was Jugendliche heute lernen, kommt eben nicht mehr aus dem Trichter, mit dem Pädagogen die leere Gehirne mit Wissen füllen. Dieses plastische Bild, wie schulisches Lernen zu geschehen hat, gehört der Vergangenheit an.
Wie kann also eine Schule aussehen, die diesen neuen Entwicklungen Raum gibt? Lehrer müssen sich verändern. Der Pädagoge, der seine Schülerinnen und Schüler Fragen stellt, die er selbst schon lange beantworten kann, sollte der Vergangenheit angehören. Gemeinsam sollten sich alle Beteiligten mit Neugier diese Welt aneignen. In Kanada wählen Oberschüler pro Halbjahr vier Fächer. Mehr Vielfalt im Unterricht ist nicht nötig. Gleichzeitig bleibt Zeit, in einer Gruppe intensive Erfahrungen zu machen, wenn es darum geht, nach dem Halbjahr ein beeindruckendes Ergebnis zu präsentieren, sei es in Form eines Theaterstücks oder als Präsentation einer archäologischen Ausgrabung. Ein weiterer Unterschied zwischen unserem und dem angelsächsischen Schulsystem ist in dem Verhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden zu beobachten. Tasja Frenzel, Leiterin der Internationalen Schulprogramme der Carl Duisberg Centren in Köln erklärt den Unterschied zwischen kanadischen und deutschen Lehrern so: „Solange der Jugendliche etwas noch nicht verstanden hat, hat der Lehrer seinen Job noch nicht beendet. Viele deutsche Lehrer vermitteln ihren Stoff und wer ihn nicht versteht, muss sich woanders Hilfe holen oder scheitert.“ Rüpelhaft, so scheint es, sind in unserem Land also nicht nur die Schülerinnen und Schüler.
Lesen Sie weitere Artikel zum Thema auch unter:
www.trailer-ruhr.de/thema
www.choices.de/thema
Aktiv im Thema:
www.amg-koeln.de/theatermedien/theatermedienklassen.html
www.ruhrfutur.de
www.planerladen.de
www.mit-menschen-wuppertal.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Schule ist wichtiger denn je“
Cornelia Gräsel zu den Aufgaben und Perspektiven unseres Bildungssystems – Thema 03/14 Wozu Schule
„Regelschulen dürfen sogenannte Außenseiter nicht mehr aussondern“
Dirk Thierbach zu den Chancen und Risiken der Inklusion – Thema 03/14 Wozu Schule
Mehr Selbstbewusstsein und Integration durchs Theater
In der „Akademie der inklusiven Künste“ werden behinderte Menschen eine professionelle Theaterausbildung absolvieren – Thema 03/14 Wozu Schule
Vorbild Finnland
Warum Finnland bei Lernstandserhebungen immer sehr gut abschneidet – Thema 03/14 Wozu Schule
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 1: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
Rassismus kostet Wohlstand
Teil 2: Leitartikel – Die Bundesrepublik braucht mehr statt weniger Zuwanderung
Schulenbremse
Teil 3: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
Glücklich erinnert
Teil 1: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Aus Alt mach Neu
Teil 2: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 3: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Das Spiel mit der Metapher
Teil 1: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 3: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 1: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 3: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Stimmen des Untergangs
Teil 1: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Friede den Ozeanen
Teil 2: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 3: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 1: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 2: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Der andere Grusel
Teil 3: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Sehr alte Freunde
Teil 1: Leitartikel – Warum der Hund zum Menschen gehört
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 2: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen
Wildern oder auswildern
Teil 3: Leitartikel – Der Mensch und das Wildtier