1972 war alles in Ordnung. Menschen flogen regelmäßig zum Mond. Die USA und die UdSSR unterzeichneten ein erstes Abrüstungsabkommen. Und der Wuppertaler Sportverein stieg in die 1. Bundesliga auf und erreichte im darauffolgenden Jahr sogar einen sensationellen vierten Platz. Zugegebenermaßen lässt sich die Uhr nicht zurückdrehen, erst recht nicht schlappe 40 Jahre. Noch immer aber blicken die älteren Fans des Traditionsclubs wehmütig in die Vergangenheit. Der Stürmer Günter „Meister“ Pröpper erzielte in jener Saison 72/73 insgesamt 21 Tore und wurde nach Gerd Müller und Jupp Heynckes Dritter der Torschützenliste. In der Aufstiegsrunde ein Jahr zuvor erzielte er sogar 52 Tore. 1992 bis 94, als man kurz in der 2. Liga und 2008 bis 2010, als man zumindest in der frisch gegründeten 3. Liga spielte, flammte kurz Hoffnung auf. Der Wuppertaler SV Borussia hat aber, das glauben viele, im Gegensatz zu seinen beiden Namensvettern aus Mönchengladbach und Dortmund die beste Zeit schon lange hinter sich. Die Vereinspolitik, die gelegentlich an ein Ränkespiel shakespeareschen Ausmaßes erinnert, macht die Fans nicht hoffnungsfroher. Der langjährige Präsident Friedhelm Runge, der über 21 Jahre die Geschicke des Vereins lenkte, also somit länger sein Amt innehatte, als Helmut Kohl Bundeskanzler war, trat Anfang des Jahres zurück. Viele Fans hatten ihn immer wieder attackiert. Zu selbstherrlich sei sein Auftreten und zu einsam seien seine Entscheidungen gewesen. Wie es nun mit dem Verein weitergeht, ist schwer abzuschätzen. Mit dem Industriellen Runge verliert der WSV auch seinen Hauptsponsor. Für einen Winterschlussverkauf aller guten Spieler ist es für den WSV jetzt im Mai zu spät. Auch stellt sich die Frage, ob die Spieler über einen entsprechenden Marktwert verfügen, um die Vereinskasse wieder zu füllen.
Eine andere Baustelle ist, folgt man den Aussagen der hiesigen Polizeiführung, die Gewaltbereitschaft der Fans. Wenn der WSV Auswärtsspiele bewältigen muss, gilt für die Ordnungskräfte höchste Alarmstufe. Vor anderthalb Jahren verwüsteten die Wuppertaler auf der Hinreise nach Koblenz einen kompletten Eisenbahnwaggon. Aber auch sonst haben die WSV-Fans, ähnlich wie andere Anhänger mittelklassiger Vereine, keinen guten Ruf. Dabei gilt es zu differenzieren. Das Gros der Fans lässt sich nichts zu Schulden kommen. Und auch die eher jugendlichen Fangruppen können nicht alle über einen Kamm geschoren werden. „die-wuppys 04“, „Einheit Wuppertal“, die „Generation Rot-Blau“ oder die „Wupperpiraten“, sie alle sind vom Verein anerkannte Gruppen. Der Verein „Ein Dach für die Nord“, der sich 2009 gründete und das ambitionierte Ziel verfolgte, den stehenden Fans ein regenfreies Dasein zu ermöglichen, was gerade im niederschlagsreichen Wuppertal eine noble Geste ist, hat nach einigen herben Rückschlägen sein Ziel noch immer nicht erreicht. Da half selbst die Unterstützung von Oberbürgermeister Peter Jung oder Filmemacher Tom Tykwer nichts.
Die Kontrahenten scheinen sich in ihren Rollen zu gefallen
Über keine feste Vereinsstruktur verfügt eine andere wichtige Fangruppe in Wuppertal. Zunächst waren die Ultras in Italien ein Phänomen, das die Fußballwelt erschütterte. Wilde Choreographien, Fangesänge, aber auch politisches Engagement unterschied diese Gruppe von der Masse der Fans. Seit Jahren sind die Ultras aber auch Teil der deutschen Fan-Szene. Während die Ordnungskräfte sie für eine steigende Anzahl von Gewaltdelikten im Umfeld von Fußballspielen verantwortlich machen, sehen Fanprojekte in ihnen engagierte Begeisterte, die nicht gewalttätiger sind als andere Gruppen. Das Fan-Projekt Wuppertal unterstützt die Ultras, die neben anderen Gruppen sehr gern die Räumlichkeiten des Projektes nutzen. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Verein und Polizei auf der einen Seite und Ultras auf der anderen Seite, geht es, so scheint es auf den ersten Blick, eher um Banalitäten. Der Verein untersagte seinen Fans im vergangenen Winter, Fahnen mitzuführen und Banner an den Absperrungen zu befestigen. Begründung: Beim Heimspiel gegen Rot-Weiß-Essen seien diese als Blickschutz missbraucht worden, um illegal Feuerwerkskörper zu zünden. Die Ultras wiederum reagierten empört auf diese Anordnung und sprachen einen Boykott von Heimspielen aus. Tatsächlich mutet der Konflikt zwischen jugendlichen Fans und Ordnungskräften zuweilen wie ein Räuber-und-Gendarm-Spiel an. Junge Leute, besonders junge Männer, erleben ihre Stärke, wenn sie sich an väterlichen Autoritäten messen können. Die Polizei nimmt mit ihrem zuweilen massiven Auftreten bereitwillig die Rolle des autoritären Vaters ein, der Vereinsvorstand die des verständnislosen Patriarchen. Die Kontrahenten scheinen sich in ihren Rollen zu gefallen. Niemand wagt einen Sprung über den eigenen Schatten. Die Stellungnahmen von Seiten der Polizei klingen nicht gerade nach Deeskalation. Aber auch die Ultras, so zumindest berichten manche genervten Fans, hätten das Interesse an dem Spiel längst verloren. Es gehe nur noch um den Streit mit Vorstand und Polizei. Vor diesem Hintergrund sind Verhältnisse wie zur Saison 1972/73 in Zukunft eher unwahrscheinlich.
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