„Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Für wen ist der Verkehr gemacht?“, sagt Rebecca Sirsch von Stadt für Alle und steigt damit direkt in das Thema des Bündnisses ein: die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen in Bochum. Diese hängt nicht nur von sozialer Vernetzung ab, sondern auch von Architektur, Wegenetz und Transportmitteln. Um den Entwicklungsbedarf aufzuzeigen, den es in unseren Städten immer noch gibt, organisiert das Bündnis regelmäßig Stadtrundgänge und Veranstaltungen zu stadtpolitischen Themen.
Gegen die Bedürfnisse der Menschen
Stadt für Alle streitet für eine Infrastruktur, die die grundlegenden gesellschaftlichen Funktionen bedient. Entsprechend setzt sich das Bündnis für die Radwende ein, aber das reiche nicht: „Wir brauchen eine generelle Verkehrswende“, so Sirsch. So sei Stadtplanung, die auf Individualverkehr ausgerichtet ist, ein Problem, ebenso wie Fahrpläne, die nur den linearen Verkehr von zu Hause zur Arbeit und zurück mitdenken. „Sehr viele Bedürfnisse bleiben dabei unberücksichtigt“, wendet Sirsch ein. Wenn vor der Arbeit die Kinder in den Kindergarten gebracht werden müssen, danach schnell bei der Schwiegermutter im Nachbarviertel vorbeigeschaut und eingekauft werden muss, steigen Zeitaufwand sowie Kosten erheblich. „Firmen bezahlen ihren Arbeitnehmer:innen immerhin ein Arbeitsticket – aber ein Sorgearbeitsticket gibt es natürlich nicht“, erläutert Sirsch ihr Gedankenexperiment.
Bezahlbarer ÖPNV
Von den alltäglichen Anforderungen, die der ÖPNV erfüllen sollte, kommt sie zum Thema Bezahlbarkeit. In vielen Diskussionen, die es im letztem Sommer um das 9-Euro-Ticket gab, ging es auch um soziale Teilhabe und Gerechtigkeit. Hinzu kommen Strafen, wenn man beim Schwarzfahren erwischt wird: „Der Begriff kommt aus dem Jiddischen und bedeutet so viel wie ‚arm fahren‘“, erklärt Sirsch und weist darauf hin, dass derzeit rund 7.000 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, weil sie nicht in der Lage sind, die Strafgebühr zu zahlen. Betroffen sind vor allem Langzeitarbeitslose und Wohnungslose. „Das ist eine gesellschaftliche Schieflage, die sich hier bemerkbar macht“, so Sirsch.
ÖPNV ohne Barrieren
Ein guter ÖPNV garantiert also für Stadt für Alle auch Mobilität für alle. Aber was ist, wenn die öffentlichen Verkehrsmittel gar nicht erreichbar sind? Selbst als körperlich gesunder Mensch kennt man das Problem, wenn man sein Fahrrad mit in den Zug genommen hat und es dann über Treppen tragen musste. Diese Anekdote beschreibt eine wichtige Kernerfahrung im Leben von Menschen, die auf Rollatoren oder Rollstühle angewiesen sind, oder von Personen mit Kinderwagen: Die Haltestelle ist nicht oder nur mit erheblichem Aufwand erreichbar. Ist der ÖPNV in seiner heutigen Form also nur etwas für Gesunde? Vieles ließe sich verbessern, um Teilhabe am und durch den ÖPNV zu ermöglichen. Rebecca Sirsch versucht, vier Forderungen zu zentrieren: Erstens müsste ein städtischer ÖPNV für alle bezahlbar sein, zweitens müssten Netz und Taktung Bedürfnisse besser abdecken, drittens muss der Zugang zum ÖPNV barrierefrei gestaltet werden und viertens müssen Arbeitnehmer:innen der Verkehrsbetriebe angemessen bezahlt werden. „Der ÖPNV kann einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten“, findet Sirsch, „neben seiner zentralen Bedeutung für das Klima.“
VERKEHRSWEGE - Aktiv im Thema
fahrradklima-test.adfc.de/ergebnisse | Wer wissen will, wie fahrradfreundlich deutsche Städte sind, kann die interaktive Karte des ADFC zu Rate ziehen.
radkomm.de | Der „Think Tank für urbane nachhaltige Mobilität und Stadtentwicklung“ will zugunsten des Fuß- und Fahradverkehrs den Autoverkehr eindämmen.
changing-cities.org | Die „unabhängige Bewegung für die bessere Stadt“ setzt sich für eine bessere Mobilität, besonders fürs Fahrrad, ein.
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