Die Fliege, die ich einatme, könnte ein verstorbener Verwandter oder ein früheres Selbst sein – ein Grund für Jains, einen Mundschutz zu tragen. Bei der Premiere der „Hörbar“-Veranstaltungsreihe vom Katholischen Bildungswerk Wuppertal/Solingen/Remscheid im Katholischen Stadthaus am 11. September 2017 – ein passend historisches Datum – drehte sich alles darum, was Gewalt eigentlich ist und inwiefern Gewaltlosigkeit überhaupt lebbar ist. Nachdem Journalist Øle Schmidt, der in den letzten Jahren vor allem Radio-Reportagen gemacht hat, die rund 20 Besucher um 19 Uhr mit seiner Audio-Dokumentation 25 Minuten in den Jain-Tempel in Mount Abu in Nordindien und seine mehrtägigen Erlebnisse mit Jain-Mönchen und -Gläubigen vor einem Jahr entführt hat, folgte auf das gemeinsame Hören eine kontroverse Diskussion über den Jainismus und Ahimsa – das Prinzip der absoluten Gewaltfreiheit gegenüber Menschen und Tieren, dem sich die Jains verschrieben haben.
Der von Mahavira, einem Zeitgenossen Buddhas, begründete Jainismus ist über 2500 Jahre alt und damit älter als das Christentum. Dennoch ist die Religion, die der Dalai Lama nach einem Besuch des Jain-Tempels als den besseren Buddhismus bezeichnete, in Europa nahezu unbekannt. Rund drei Millionen Jains gibt es weltweit, Friedenskämpfer wie Mahatma Gandhi und Nelson Mandela wurden vom Jainismus inspiriert. Das höchste Ziel der Jains ist der Ausstieg aus dem Kreislauf der Wiedergeburt – durch strikte Befolgung des erwähnten Gebots der Gewaltlosigkeit.
Die begleitend gezeigten Bilder zeugen von fröhlichen Gemütern und entspanntem Chaos. Eine Hierarchie gibt es zwar aufgrund verschiedener Stufen der Erleuchtung, doch ansonsten gilt ein brüderlicher Umgang miteinander. Selbst den Gedanken an Gewalt und damit auch negative Emotionen wie Wut versuchen die Jains durch zum Beispiel Meditation zu vermeiden. Ahimsa macht es den Gläubigen unmöglich, Berufe wie Bauer, Schlachter oder gar Waffenhändler auszuüben, auch das Autofahren wird abgelehnt. Man läuft barfuß, um ja keine Ameise zu zertreten und wedelt den Weg vor sich vorsorglich frei. Viele arbeiten als Banker oder Architekten, Bildung und Reichtum, das ist allen gemein. Und hier tut sich dann auch ein Widerspruch auf: Schutz selbst des kleinsten Lebewesens, doch beim Stichwort Deutsche Bank-Skandal und strukturelle Gewalt, verstummten auch die Jain-Pilger aus Mumbai, berichtet Schmidt.
Aber seien wir ehrlich, wer ist schon fähig, ein Ideal widerspruchsfrei zu leben? Es gibt Fleisch essende Tierschützer, rauchende Ärzte, und die strittige Kuhschützer-Brigade Indiens zeigt, wie sich auch dort Ideale gewaltsam instrumentalisieren lassen. „Was verteile ich da eigentlich?“, fragte sich die anwesende 21-jährige Chantal, als sie einmal als Vegetarierin und Greenpeace-Mitglied eine Einladung zum Grillfest verteilen soll. Ihre 19-jährige Freundin Anna ist vom fehlenden christlichen Engagement zum Thema Tierschutz enttäuscht, dabei spricht doch auch die biblische Genesis von einem Paradies, in dem selbst die Tiere friedlich miteinander leben und Raubtiere Pflanzen fressen. Gerade in Zeiten, in denen im Namen Gottes Köpfe rollen und Kulturkämpfe ausgetragen werden, wäre zumindest das Bewusstsein und das – wenn auch nie ganz widerspruchsfreie – Eintreten für Wege der Gewaltlosigkeit gegenüber Mensch und Tier ein guter Schritt voran. Der Weg ist das Ziel.
Dass der Weg kein leichter ist, zeigte auch die Diskussion selbst, der westliche Blick, der sich gleich kritisch auf Widersprüche stürzt und die Negativseite förmlich sucht. Ist der Tempel-Leiter ein schändlich egoistischer Vater, der die Familie verlässt, um ein enthaltsamer Jain-Mönch zu werden – oder ist seine Frau vielleicht auch ganz froh, dass er weg ist? Oder freut sie sich vielleicht einfach mit ihm, dass er nach mehr Erleuchtung sucht? Wer weiß das schon. Sicher ist, die Besucher kamen etwas klüger aus der Veranstaltung heraus als sie hineingegangen sind, und damit wurde einer von drei Grundpfeilern des Jainismus gepflegt: Rechtes Wissen. Die anderen zwei sind rechter Glaube und rechtes Verhalten. Und die werden sicher heiß beim zweiten „Hörbar trifft... Indien“-Teil am 18. September 2017 diskutiert, bei dem es um die verstoßenen Witwen im hinduistischen Krishna-Pilgerort Vrindavan geht.
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