Ursache allen Lasters ist die ungezügelte Begehrlichkeit. Zu Zeiten Frank Wedekinds (1864-1918) wurde die Scheinmoral noch hinter Vorhängen zelebriert, die Wortwahl schon obszön, die Ehrbarkeit aber heilig. In Wuppertal inszeniert Sybille Fabian eine bildmächtige „Lulu“, die in einem zerbrechlichen Raum von Mann zu Mann gereicht wird und dort auch als zum Körper gewordenes Lustobjekt irrational ihre Umwelt betört. Unschuldiges Weiß beherrscht die expressionistische Bühne, auf der die Choreografie der Figuren deren vom Trieb gesteuerten Handlungen antreibt. Niemand bewegt sich so richtig normal. Alle Körper winden und strecken sich, der Wille hat den Geist verlassen, die angebetete Lulu setzt auch die Motorik außer Kraft.
Doch wer war dieser animalische Auslöser der Wedekindschen Monstertragödie (1914 zusammengebraut aus zwei Dramen), die auf ihrem Weg zur erwünschten Erlösung Leichen hinterlässt? Lulu wird als Kind vom reichen Zeitungsverleger Franz Schön von der Straße geholt und zu seiner Geliebten gemacht. Schön ist ihrer sexualisierten Schönheit verfallen, verkuppelt sie aber aus Standesdünkel weiter, Dr. Goll und der Maler Schwarz folgen, überleben die Liason aber nicht. Auch Schön lässt Lulu fallen und wird dafür von ihr erschossen. Lulu beginnt auf der Straße ihr letztes Gefecht gegen den unausweichlichen Untergang. So weit so kurz, und doch sind es die inneren Fragen, die Sybille Fabian mit zahlreichen nonverbalen Chiffren verhandelt. Die schwarzweiße Selbstdarstellung aller Akteure um Lulu herum verhindert auch ihre farbige Substanz, sie werden reduziert auf triebgesteuerte seelenlose Wesen, die wenig Persönlichkeit, dafür aber viel Schminke benötigen. Mit diesem Regietrick hebelt Fabian auch die gängigen Muster der Lulu-Rezeption aus, was die Inszenierung sperrig, aber auch ungemein interessant macht, weil sie die Figurenkonstellation aus Sicht der Frau und nicht der tradierten Symbolik aller Männerfantasie baut. Lulu ist eigentlich das einzige Blutwesen auf der Bühne, überzeugend mit Slip und Strumpfhose gespielt von Juliane Pempelfort, der Rest sind leere Hüllen, die mal an Ozzy Ozbourne oder Murnaus Nosferatu erinnern. Der Trieb ist eben eine Symphonie des Grauens, egal ob das Objekt der Begierde Lulu, Nelly oder Mignon heißt und die weibliche Macht als Elementarkraft ausübt.
Diese Frau ist kein Opfer und muss doch geopfert werden. Denn die Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts und heute noch ist eine männliche und so muss das Weib, triebhaft begehrt und doch so eminent gefährlich, in den Niedergang getrieben werden. Franz Schön will sie in den Selbstmord treiben, doch sie erschießt ihn, nach einem aufreizenden Ritualtanz, eher als Befreiung beider. Dann Gefängnis. Flucht nach Paris, wo sie nun Alwa Schön bedient. Noch sind die Mechanismen sexuell aufgeladen, doch die Weigerung in einem Bordell zu arbeiten, führt zur Denunziation, zur Flucht nach London und doch zu einem Leben als Hure. Ihr letzter Besucher, Jack the Ripper, beendet die Reise brutal mit seinem Messer. Diese Defloration ist das Ende von Lulu, doch auch die filigranen Wände des dekadenten Raums sind da längst in sich zusammengefallen.
„Lulu“ von Frank Wedekind I R: Sybille Fabian I Mi 8. 6., Fr 10.6., Sa 11.6., Mi 15.6. je 19.30 Uhr I Opernhaus Wuppertal I 0202 569 44 44
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