Frank Wedekinds Klassiker „Lulu“ kennen viele. Anerkennendes Schnalzen oder tiefes Seufzen sind die Reaktion auf die Titelfigur, gerne als femme fatale oder „La belle Dame sans merci“ gesehen. Juliane Pempelfort ist in Sybille Fabians Inszenierung an den Wuppertaler Bühnen diese Frau, die sie nicht als Vamp interpretiert, sondern als ein „pures Wesen in einer zwanghaften (Männer-)Welt. Im Tanz findet Lulu ihre Freiheit, in der Verkleidung, im Rollenspiel ist sie ‚geschützt’“, erklärt die Schauspielerin. „ Lulu ist kein behindertes Kind. Sie ist eine kluge, eine sinnliche Frau mit ausgeprägter Beobachtungsgabe. Sie rast nach Glück, findet das Unglück. Sie ist eine Frau, die sich, die ihre Lust, die eine natürliche, schöne ist, nicht unterdrücken lässt. Sie erkennt die Mechanismen dieser Art von Domestizierung, weiß sich innerhalb derer zu bewegen, zu behaupten und wendet sie zunehmend gegen die sie Bedrückenden.“ Die Männer bringen sich bei ihren plumpen Versuchen um den Verstand. Sie wollen Lulu zähmen, bändigen und dressieren, weil sie glauben, die ehrenwerte Bürgergesellschaft, die zugleich die Entfesslung solcher Triebe tabuisiert, verlange ihnen das ab. An diesem Vorhaben also scheitern sie – kläglich. „Die Männer“, so die Ernst-Busch-Absolventin, „bringen sich selbst um ihr Glück, schließlich um ihr Leben, weil sie diese Frau nicht in ihrer Ganzheit sehen wollen und offensichtlich blind sind.“ Für das 1979 in Potsdam geborene Ensemble-Mitglied ist die besondere Herausforderung der Rolle, „den Menschen hinter der Projektionsfläche sichtbar zu machen“.
Die reine Projektionsfläche
Dass die „unglaubliche Stärke und Unbeirrbarkeit“ der Lulu sichtbar werden, dafür sorgen, noch vor der Regie Sybille Fabians, einige dramaturgische Finessen von Oliver Held. „Wir haben das Original, ,Wedekinds Monstertragödie gewählt‘, also nichts, dass der Autor für die Zensur glätten musste, sondern die „wesentlich wildere und anarchischere Variante“, sagt der Dramaturg. Der Kritik, dramaturgisch gesehen tauge Wedekinds Stück nicht viel, da es irgendwann aus einer schnell enervierenden Kette verführter Männer bestünde, nimmt er ernst. „Wir zeigen kein Stationendrama“. Mit weniger Text, expressiver Bildsprache und ordentlicher Straffung wird die Geschichte als modernes Gesellschaftsbild erzählt.
Dass das einiges abverlangt, wissen Leute mit Kenntnis von Theatergeschichte. Peter Zadek inszenierte in den 80er Jahren Susanne Lothar in der Titelrolle opulent und wirkungsmächtig, Fritzi Haberland präsentierte die Lulu eher als hartes, trockenes Gegenprogramm mit Libido als Kopfgeburt und mancher ist grandios gescheitert und machte nichts als Krawall.
Moral, Macht und Sex
„Wenn ich das Stück im Hier und Jetzt anschaue, reicht es mir nicht aus, Lulu entweder nur als ‚LustOpferFantasie‘ aus der Perspektive des männlichen Ichs zu begreifen, oder in ihr nur die Männer verschlingende femme fatale zu sehen. Ich möchte Lulu aus der Perspektive einer Frau betrachten“, erläutert die Regisseurin. Lulus Wesen wird in die Mitte des Konflikts zwischen bürgerlicher Moral einerseits und der Macht der Sexualität andererseits gestellt.
Die Inszenierung will einen Geschlechterkampf zeigen, der die narzisstischen Störungen – männlich wie weiblich – sowie die fortschreitende Verrohung der Gefühle unserer Zeit hinterfragt, in der der Mann und die Frau auf das Sexuelle reduziert werden und zwischen körperlichem Begehren und Liebe nicht mehr unterscheiden können. Für Sybille Fabian ist Lulu zu Beginn ein Findelkind ohne Identität. Dieses Wesen wird in der Männerwelt kultiviert, dazu gehören alltägliche Formen des Missbrauchs – sprachlich wie körperlich. „Was ihr Identität verschafft, ist ein innerer Widerspruch: In der lieblosen Atmosphäre, von der sie umgeben ist, wächst das Verlangen, diesen Mangel zu überwinden. Sie will ausgerechnet von den Männern geliebt werden, die sie wie ein Tier halten und sie nur als Droge zur Befriedigung ihrer triebhaften Gier missbrauchen. In ihrer anfänglichen Naivität hält sie es für Liebe, wenn sie sich den unterschiedlichsten Gewaltoptionen und Gewaltmustern der Männer unterwirft und sich, um zu überleben, unbewusst an diese anpasst.“
Lulus rauschhaftem Kampf um ein Identität stiftendes Dasein entspricht ihre monströse Sucht nach Liebe, an die sie unbeirrbar glaubt, obwohl sie letztlich unerfüllt bleibt, was sie in den Augen der Regisseurin zu einer „Passionsfigur macht, die sich gewissermaßen als codierte Weiblichkeit lebend dem Tod weiht, weil sie gleichermaßen ihren eigenen Anfang und ihr eigenes Ende verkörpert. Vor die Wahl gestellt, entweder ins Gefängnis zu gehen oder sich als Prostituierte an ein Bordell verkaufen zu lassen, entscheidet sie sich „sub species mortis“ für ein Leben im Gefängnis und entzieht sich somit dem Zugriff männlicher Gewalt.“
„Lulu“ von Frank Wedekind I R: Sybille Fabian I Opernhaus Wuppertal I Fr 13.5. 19.30 Uhr (P), So 15.5. 15 Uhr I 0202 569 44 44
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