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Anarchische Aktivisten bei der Gleisbesetzung
Foto: Presse

Anarchie in Traum und Tat

10. August 2016

Dokumentarfilm „Projekt A“ auf der attac-Sommerakademie und im Bochumer Endstation-Kino – Spezial 08/16

Die globale Krise des Kapitalismus lässt seit den Finanzmarkt-Turbulenzen 2008 die Suche nach System-Alternativen wieder aufflammen. Dies spiegelte auch das Filmprogramm der Sommerakademie des globalisierungskritischen Netzwerks attac vom 3. bis 7. August 2016 in Düsseldorf wider. So portraitierte der Filmemacher Andi Stiglmayer in „Menschen – Träume – Taten“ (D 2007) die bereits Ende der 90er Jahre in der brandenburgischen Altmark gegründete ökologische Modellsiedlung „Sieben Linden“, während die Dokumentarfilmer Marcel Seehuber und Moritz Springer in „Projekt A“ (D 2015), ein Kaleidoskop aktueller anarchistischer Projekte in Griechenland, Spanien und Deutschland vorstellen. Den historischen Hintergrund lieferte der Film „Economia Col·lectiva – Europas letzte Revolution“ (Spanien 2014), der die anarchistische Vision eines hierarchiefreien solidarischen Miteinanders am Beispiel Kataloniens in den Jahren 1936-39 illustriert.

Schon seit den Anfängen des Anarchismus im russischen Zarenreich sowie auf dem bisherigen historischen Höhepunkt der anarchosyndikalistischen spanischen Gewerkschaftsbewegung mit rund zwei Millionen organisierten Mitgliedern geht es um die Schaffung freiheitlich-selbstbestimmter Kollektive im Sinne eines libertären Kommunismus: „Der Anarchismus schlägt vor, Entscheidungen selbst zu treffen“, so das Credo der nach dem Ende der Franco-Diktatur reorganisierten Confederatión Nacional del Trabajo (CGT) – „wir brauchen keine Repräsentanten.“ Der Film „Projekt A“ holt diese revolutionäre Vision in die Gegenwart und wirft die Frage auf, ob „Regierungen nicht Teil des Systems sind“, das – wie sich insbesondere im Zuge der Euro-Krise in Griechenland zeigt – „zum Scheitern verurteilt ist.“ So werden die jüngsten Entwicklungen im Athener Stadtteil Exarchia (Εξάρχεια) auch zum ersten filmischen Kristallisationspunkt anarchistischer Bestrebungen, ohne den Staat und seine „repressiven Institutionen“ auszukommen, seit dort im Dezember 2008 ein einmonatiger Ausnahmezustand verhängt wurde, nachdem ein 15-jähriger Aktivist von Polizeikugeln getötet wurde und es zu Unruhen gekommen war.


Will Machtstrukturen überwinden: Aktivistin Hanna Poddig, Foto: Ulrich Schröder

„Der Planet wird zerstört – die Finanzpolitik hat uns das letzte Hemd genommen“, konstatiert ein Aktivist vor der Kamera. Inzwischen gebe es in Exarchia keine einzige Bankfiliale mehr und die Menschen nehmen die Gestaltung des Stadtteils zunehmend selbst in die Hand – so etwa die Kultivierung des zentralen Parks, der bereits zu Beginn der Bewegung besetzt worden war. Die (somit als Chance zu begreifende) Finanzkrise schaffe neue Bedürfnisse, deren Befriedigung man eben selbst organisieren müsse. Der auf „Gewalt und Unterdrückung“ setzende Staat hingegen habe den „Kampf um die Köpfe“ verloren, sodass neue Wege gegangen werden müssten, um – ausgehend von Graswurzelbewegungen – eine solidarische Gesellschaft zu organisieren.

Auch der deutschen Aktivistin Hanna Poddig geht es um kooperative Lösungen, um gerade in Zeiten der weltweiten Krise des Kapitalismus „die hierarchischen Strukturen dieser Welt“ zu überwinden. Doch hierzu zähle zuweilen auch, möglichst nachhaltig „Sand ins Getriebe“ zu streuen, um besonders „ätzende Dinge“ abzuschaffen – so gehören etwa Gleisbesetzungen zur Verhinderung (oder zumindest Verzögerung) von Atomtransporten zur politischen Routine im Rahmen der anarchistischen Anti-Atombewegung. Und selbst wenn der Atomausstieg in Deutschland noch längst nicht vollzogen ist, habe die Bewegung bereits einiges erreicht: „Ich möchte nicht wissen, wie diese Welt aussehen würde, wenn es nicht so viele Leute gegeben hätte, die gekämpft haben“, sagt Hanna Poddig im Film-Interview und ist überzeugt, dass man vielleicht 80 von ursprünglich 100 geplanten AKWs in Deutschland verhindert habe.

Bei anarchistischen Projekten gehe es jedenfalls um mehr als „gutes Gemüse für reiche Leute“ zu züchten, was Hanna Poddig im Filmgespräch am Münchner „Kartoffelkombinat“ als abschließend dokumentiertem Beispiel kritisiert. Nichtsdestotrotz sei eine „Politisierung von solchen Leuten auch spannend“ – wozu nicht zuletzt inzwischen 450 Familien gehören, die an jenem genossenschaftlich organisierten Projekt beteiligt sind, durch das die „Produktionswirtschaft von Nahrungsmitteln wieder in die eigenen Hände gebracht werden“ soll. Kritisch hieran kann – wie auch bei (anderen) anarchistischen Projekten nicht selten zu beobachten – das Entstehen informeller Hierarchien betrachtet werden, durch die basisdemokratische Entscheidungsstrukturen letztlich wieder ausgehebelt werden können. Dennoch betont das Filmende, dass die Vision des – eher bürgerlichen – Kombinats eine versöhnliche Gemeinsamkeit mit der Maxime des Anarchismus habe: „Es geht darum, aus dieser Welt ein Paradies zu machen – das könnte sie nämlich sein: ein Paradies!“

Ulrich Schröder

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