Was Glück ist, scheint eine rein philosophische Frage zu sein. Denn für den einen ist es ein Fingerhut voll, für den anderen beginnt es erst ab dem Zehn-Liter-Kanister. Glück also ist relativ. Zeit hingegen scheint klar definierbar, weil sie unter anderem präzise messbar ist. Und doch ist gerade sie es, über die sich lange Essays lohnen. Viele Dichter haben das versucht, sie besungen, und ein gelungenes Beispiel ist Michael Endes Kinderbuchklassiker „Momo“.
„Das wollte ich schon längst auf die Bühne bringen“, sagt Regisseur Lars Emrich. Geschwindigkeit, Entschleunigung und das Phänomen Zeit sind für ihn absolut zeitlose, also immer gültige Begriffe. „Außerdem ist die Zeit für das Stück reif. Denn wir haben die perfekte Darstellerin“. Die Titelrolle wird in der Inszenierung des Kinder- und Jugendtheaters, die Samstag, 10. März, Premiere feiern wird, von Elvin Karakurt verkörpert. Sie ist ein sogenanntes Eigengewächs aus der Theaterschule, ist am Carl-Duisberg-Gymnasium in der Musical-AG und spielte in „Ben liebt Anna“ bereits die weibliche Titelrolle. „Als ich sie beim ersten Casting von Beyonce Knowles ‚Helo’ singen hörte, war ich von ihrem Talent wirklich beeindruckt.“ Die größte Schwierigkeit, behauptet der Regisseur, habe seine junge Darstellerin damit, nun diese Momo-Facette, nämlich eine besonders gute Zuhörerin zu sein, zu spielen. „Die Elvin ist lebhaft und ein Plappermaul“.
Plädoyer für Freundschaft und soziales Miteinander
Ein wie stets von Laurentiu Tuturuga gearbeitetes, aus vier Teilen bestehendes Bühnenbild dient als sehenswerte Kulisse für das wohlbekannte Abenteuer, das das jenseits der Zivilisation in einer Ruine hausende Mädchen Momo erlebt. Effizienz und Rationalität sind die Zauberworte, nach denen sich plötzlich alle ihre Freunde richten. Ominöse graue Herren, in deren Gegenwart ein Gefrierfach als Sonnenplatz anmutet, diktieren, wie sich Arbeiten optimieren lassen, und dass Freizeit oder Vergnügen dummes Zeug sind. Im Kampf gegen diese grauenhaften Eminenzen begegnet das selbstständig denkende Mädchen der wundersamen Schildkröte Kassiopeia (Marie Speckmann). Dieses Geschöpf, in Ehren weise geworden und seiner eigenen Taktung folgend, führt Momo zu Meister Hora (Udo Dülme). Er beschenkt die Menschen mit dem kostbarsten Gut, nämlich Zeit, und zwar in Form hübscher Stundenblumen. „Und das“, so findet Lars Emrich, „ist doch ein schönes Bild: beschenkt zu werden.“ Was der Einzelne mit dem Geschenk anfängt, ist seine Sache, und an diesem Punkt könnte man trefflich darüber philosophieren, für was man seine Zeit gerne investiert, oder sich die bange Frage stellen, was passiert, wenn die Zeit am Ende eines Lebens droht abzulaufen. „Dann resümiert man, und wie fällt dann die Bilanz aus?“. Vor allem sei unsere Gesellschaft wirklich „weit davon entfernt, Zeit zu haben. Wir hetzen, sausen, und Gaben, wie zuhören zu können oder tatsächlich ohne schlechtes Gewissen gar nichts zu tun, sind selten geworden. Die mediale Überforderung ist überall spürbar, genauso wie dieser permanente Konsum, am schlimmsten noch, um zu kompensieren, der kann nicht gut sein.“
Investition in die schönen Dinge des Lebens
An der legendären „Momo“-Verfilmung mit Radost Bokel hat sich Lars Emrich für sein Konzept „kein bisschen orientiert. Das Buch ist Ideengeber genug. Wem da beim Lesen keine Bilder kommen ...“ Die Sprache Michael Endes hält er ebenfalls für zeitlos. Allerdings gibt es ein paar Begriffe, die aus den 70er Jahren ins 21. Jahrhundert transferiert werden müssen. „Lochkarten spielen“ wie es im Original heißt, diese Formulierung wird durch „Excel-Tabelle-spielen“ ersetzt. „Das ist ja etwas, was den Kindern von heute flüssig über die Lippen geht“, weiß der Vater zweier Teenager-Töchter.
Untermalt wird die märchenhafte Geschichte von eigens für diese Inszenierung komponierter Musik von Andreas Grimm. Die Versuchung sei groß gewesen, auch ein richtiges Lied für „Momo“ einzubauen, denn „Elvin hat eine tolle Stimme“. Aber das wäre dann ein immer wiederkehrendes Motiv gewesen, das insgesamt zu zeitaufwändig geworden wäre. Zeit nämlich spielt immerzu und in allen Formen eine Rolle. Bei der Inszenierung für Kinder ab neun Jahren insofern, als deren Begabung, sich konzentriert aufs Zuschauen zu fokussieren, eben durchaus limitiert ist.
„Momo“ I Premiere 10.3., 16 Uhr Aula Berufskolleg Elberfeld/weitere Aufführungen: 14.3., 18 Uhr Klosterkirche Lennep/17.3., 16 Uhr Jugendzentrum Schwelm/20.3., 18 Uhr Gesamtschule Solingen-Wald/22.3., 18 Uhr/24./25./28.3, 16 Uhr Aula Berufskolleg I www.kinder-jugendtheater.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Schäferwagen und Hexenhaus
„Hänsel und Gretel“ am Opernhaus Wuppertal – Auftritt 11/24
Ohne Firlefanz
Premiere von „Salome“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 10/24
„Im Stück steckt ganz viel Politik drin“
Regisseurin Barbara Büchmann über „Der einzige Mann am Himmel bin ich“ in Wuppertal – Premiere 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
„Macht und Machtspiele“
Intendant Thomas Braus über die neue Spielzeit am Wuppertaler Schauspiel – Premiere 09/24
Zahlreiche Identitäten
6. Hundertpro Festival in Mülheim a.d. Ruhr – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Weltstars in Wuppertal
Größen der Rock- und Pop-Szene gastieren im LCB – Porträt 07/24
Unterhaltsame Kurzweil
„Die lustigen Weiber von Windsor“ am Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 07/24
„Schauspielerfahrung schult perspektivisches Denken“
Schauspieler Thomas Ritzinger hat mit „Die letzte Nachtschicht“ einen Roman geschrieben – Interview 07/24
Bewegte Geschichte
Soziokulturelles Zentrum Die Börse in Wuppertal – Porträt 06/24
„Wir sind eher im sozialkritischen Drama zuhause“
Regisseur Peter Wallgram über „Woyzeck“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 06/24
Jack the Ripper im Opernhaus
Ausblick auf die Spielzeit der Wuppertaler Bühnen – Bühne 05/24
Richtig durchgestartet
Der Wuppertaler Verein Insel – Porträt 05/24
Ethel Smyth und Arnold Schönberg verzahnt
„Erwartung / Der Wald“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 05/24
„Eine Geschichte, die keinen Anfang und kein Ende hat“
Die Choreograph:innen Thusnelda Mercy und Pascal Merighi über „Phaedra“ in Wuppertal – Premiere 05/24
Auf die Melancholie die Liebe
Theatergruppe Bamboo inszeniert frei nach Georg Büchner – Bühne 04/24
Teuflischer Plan
Senecas „Phaedra“ am Theater am Engelsgarten – Prolog 04/24
„Es geht nicht mehr um den romantischen Naturort“
Manuel Schmitt inszeniert „Erwartung / Der Wald“ an der Oper Wuppertal – Premiere 04/24
Von der Liebe enttäuscht
Premiere von Georg Friedrich Händels Oper „Alcina“ in Wuppertal – Auftritt 04/24
„Das Klügste ist, dass man die Polizei gar nicht sieht“
Anne Mulleners inszeniert „Falsch“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 03/24
„Wir hoffen, dass die Geschichte neu wahrgenommen wird“
Regisseurin Julia Burbach inszeniert „Alcina“ an der Oper Wuppertal – Premiere 02/24
„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24
„Wir haben uns absolut gegen den großen Stein entschieden“
Regisseurin Hannah Frauenrath über „norway.today“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 12/23
Knechtschaft und Ungerechtigkeit
„Cinderella“ im Opernhaus Wuppertal – Oper 12/23