Manchmal wird die Funktionalität eines Behelfs zur Chance. Selten hat man das Kleine Theater in Wuppertal so groß gesehen und wurde es so weitläufig bespielt wie in Regisseur Tilo Nests Inszenierung von Henrik Ibsens „Nora oder Ein Puppenheim“. Dabei hat er das Stück in zwei Hälften gespalten, Intro und Substanz, für die Zuschauer Schemel und gepolsterter Sitz. Eine äquivalente Ungleichheit der Personen vor und auf der Bühne, die als homogene Masse interagieren, selbst in der Choreografie des sich Bewegens aller, die nach und nach zu Spielbällen werden.
Dabei fängt alles harmlos an. Nora (Juliane Pempelfort) kehrt vom Geschenke-Einkauf zurück, Torvald (Hanno Friedrich) kommt aus der Bank. Es ist Weihnachten, das riesige Haus ist nett eingerichtet, hat einen Garten für den Kettenrauchergatten und ein japanisches Atrium. Die Wege sind also für Besucher lang, und man kann sie bereits aus der Ferne erkennen. Schon hier werden die Sollbruchstellen ihrer Beziehung klar, Mann gegen Mutter, Patriarch gegen Puppe, Nora ist hübsch, Torvald erfolgreich. Zwei Kinder sind auch schon da. Die sensationellen Attribute für eine schöne Zukunft lassen bei Ibsen immer dunkle Wolken erahnen, und die erscheinen auch prompt: In Person Krogstad (Lutz Wessels), der bei Torvalds Bank seine Stelle verlieren wird, wegen Machenschaften, aber auch trotz oder vielleicht wegen seiner Duzfreundschaft zum Chef. Dumm, dass er Nora wegen einer Urkundenfälschung scheinbar in der Hand hat. Dazu taucht noch ihre Freundin Kristine Linde (Julia Wolf) auf, die Noras neuen Einfluss nutzen will. Tilo Nest ist selbst eher als Schauspieler bekannt, lässt das Stück in merkwürdig jugendlichen Kreisen durch das Puppenheim rotieren. Die Konstellationen der Figuren entspringen der Realität, die kausale Aussage wird später in einem Nichtraum verhandelt, in dem die konstruktiven Perspektiven des Interieurs wie die gesellschaftlichen Ordnungen verschoben bleiben.
Dafür müssen die Zuschauer wandern. Aus dem hart behöckerten Foyer ins Kleine Schauspielhaus, wo sich die Reihen so weich wie noch nie anfühlten, die Protagonisten treffen es hier schlechter, sie hocken auf einer schiefen Plattform, mit eingesunkenen Stühlen im grellen Scheinwerferlicht und müssen ihr Inneres nach außen kehren. Nest inszeniert das Seelenleben einer sich überholenden Gesellschaft, deren Eckpfeiler auch das Heute noch nicht so richtig überwunden hat. Noras Liebesdienst, die Urkundenfälschung zur Rettung ihres Mannes, wird zum Tribunal für die Anwesenden. Torvald verliert durch die Aufdeckung sein Spielzeug, nennt sie Heuchlerin, Lügnerin, ja noch Schlimmeres, eine Verbrecherin. Sie, die auf das „Wunderbare“ hoffte, wird enttäuscht, gedemütigt. Doch dann wird Nora gerettet, der Schuldschein vernichtet, und Torvalds Puppe entwickelt Bewusstsein für die Realität, sie verlässt Puppenspieler und Kinder, zerstört damit die Bühne ihrer Pseudo-Ehe, nebenbei auch den Wuppertaler Spielort, dessen Bühnenfassade mit ihr schwindet. Leider ist das wieder Realität.
„Nora oder Ein Puppenheim“ I 1.3. 20 Uhr I Kleines Schauspielhaus Wuppertal I 0202 563 76 66
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