Das Serielle drang im 19. Jahrhunderts immer weiter in das Leben der Menschen vor, bis es zu ersten Widerständen kam. Eine Kammeroper erinnert nun an den Elberfelder Aufstand im Mai 1848. Dort wollen, wie fast überall im Reich, aufständische Arbeiter und Landwehrmänner die Frankfurter Reichsverfassung gegen die preußische Führung durchsetzen. Die Autoren Feridun Zaimoglu und Günter Senkel haben ein Libretto für die Oper Wuppertal geschrieben, vertont hat es Enver Yalçin Özdiker, ein junger Komponist aus Ankara. Hausherr Christian von Treskow inszeniert die 80minütige Oper für sieben Sänger, elf Musiker und Friedrich Engels als Performance an acht identischen Tischen: Es wird ein Klassenkampf, der zwar kausal, aber dennoch völlig unnötig eine Familie zerstört.
Also zurück ins brodelnde Tal der Wupper. Gottfried Jansen (Olaf Haye) besitzt dort einen Webereibetrieb, der mit Hilfe diverser Kredite aus Adels-Mischpoke und Bourgeoisie immer besser floriert. Seine beiden Töchter Graziella (Kristina Stanek) und Susanne (Dorothea Brandt) stammen aus dem Bildungsbürgertum der damaligen Zeit, Graziella sympathisiert offen mit den Aufständischen, wird „die Rote“ gerufen. „Es ist der Engels, der dir das alles eingibt“, da ist sich Vater Jansen ganz sicher. Doch sie kontert: „Herr Vater, du handelst ganz nach deinem Klassengeiste.“ Genau. Und die Verwicklungen nehmen ihren Lauf.
Schwester Susanne, eigentlich dem königstreuen Major Robert von Arrenberg (Marek Reichert) versprochen, liebt aber den jungen Arbeiter Anton, der in Vaters Weberei ackert und als Anhänger von Friedrich Engels von dessen sozialrevolutionären Ideen beseelt ist. Die rote Graziella hingegen liebt den Major, der davon noch gar nichts weiß. Bis hierhin lässt von Treskow alles an den acht Tischen verhandeln, während Engels im Hintergrund endlose Seiten beschreibt. Das ausgezeichnete Wuppertaler Sinfonieorchester in Kammerbesetzung unter der Musikalischen Leitung von Tobias Deutschmann sitzt hinter modernen Kunststofflamellen, und über allem thront fast höhnisch das christliche Christmas-Spruchband: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.
Enver Yalçin Özdiker, der in Essen lebt, hat eine Musik geschrieben, die in ihrer Tonalität dem revolutionären Geschehen ständig neue Substanz verleiht, nur in manchen Szenen noch zu behutsam wirkt. Das Schlagwerk mauert da ein wenig hinter den interessanten Ton- und Geräuschfolgen, die Gesangspartien überzeugen durchweg. Auch der Kontrast zwischen historischer Kostümierung und zeitgenössischem Bühnenbild (Dorien Thomsen) nebst Megaphon ist überaus reizvoll.
Die Regie reizt die Funktion von Tischen auf der Bühne aus, die von Abendmal-Assoziationen beim Aufruf zum Widerstand bis hin zum schnöden Utensil zum Barrikadenbau reicht. Auch als Aufbahrung für den gefallenen Major müssen sie herhalten. Dessen Tod, den auch der junge Anton zu verantworten hat, macht die Schwestern zu erbitterten Feindinnen, die sich am Ende selbst ums bourgeoise Leben bringen. Das Floß der Medusa schippert die Wupper hinunter, Herr Engels hat da bereits neue auswärtige Termine.
„Aufstand“ I Sa 28.4., 20 Uhr I Kleines Schauspielhaus, Wuppertal I 0202 569 44 44
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die beschädigte Gesellschaft
Eike Hannemann inszeniert ein eigens für Wuppertal von Autor Thomas Melle verfasstes Stück – Bühne 03/13
Die Beziehung als Gegengeschäft
Ibsens „Nora oder Ein Puppenheim“ im Kleinen Wuppertaler Theater – Theater an der Wupper 03/13
Szenen einer Ehe
Geschichten über Gefühle müssen dank Tilo Nests „Nora“ nicht trivial sein – Bühne 02/13
Große Lügen im Mikrokosmos Familie
Jakob Fedler inszeniert am Kleinen Schauspielhaus „Käthe Herrmann“ – Bühne 12/12
Osama auf der Schwebebahn
Mark Ravenhills „Das Produkt“ in Wuppertal - Theater an der Wupper 11/12
Der fliegende Sitzungssaal
„Schiefergold“ im Kleinen Theater Wuppertal – Theater an der Wupper 11/12
Fluxus im Hinterhof
Eike Hannemann inszeniert in Wuppertal „Licht frei Haus“ von Thomas Melle – Theater an der Wupper 10/12
Das Wuppertaler Gleichnis
Christian von Treskow inszeniert „Perplex“ von Marius von Mayenburg - Theater an der Wupper 06/12
Osama fährt mal Schwebebahn
Mark Ravenhills „Das Produkt“ in Wuppertal - Theater an der Wupper 03/12
Kommando Maria Böhmer
„Das Ministerium“ in Wuppertal – Theater an der Wupper 02/12
Schäferwagen und Hexenhaus
„Hänsel und Gretel“ am Opernhaus Wuppertal – Auftritt 11/24
Ohne Firlefanz
Premiere von „Salome“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 10/24
„Im Stück steckt ganz viel Politik drin“
Regisseurin Barbara Büchmann über „Der einzige Mann am Himmel bin ich“ in Wuppertal – Premiere 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
„Macht und Machtspiele“
Intendant Thomas Braus über die neue Spielzeit am Wuppertaler Schauspiel – Premiere 09/24
Zahlreiche Identitäten
6. Hundertpro Festival in Mülheim a.d. Ruhr – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Weltstars in Wuppertal
Größen der Rock- und Pop-Szene gastieren im LCB – Porträt 07/24
Unterhaltsame Kurzweil
„Die lustigen Weiber von Windsor“ am Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 07/24
„Schauspielerfahrung schult perspektivisches Denken“
Schauspieler Thomas Ritzinger hat mit „Die letzte Nachtschicht“ einen Roman geschrieben – Interview 07/24
Bewegte Geschichte
Soziokulturelles Zentrum Die Börse in Wuppertal – Porträt 06/24
„Wir sind eher im sozialkritischen Drama zuhause“
Regisseur Peter Wallgram über „Woyzeck“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 06/24
Jack the Ripper im Opernhaus
Ausblick auf die Spielzeit der Wuppertaler Bühnen – Bühne 05/24
Richtig durchgestartet
Der Wuppertaler Verein Insel – Porträt 05/24
„Eine Geschichte, die keinen Anfang und kein Ende hat“
Die Choreograph:innen Thusnelda Mercy und Pascal Merighi über „Phaedra“ in Wuppertal – Premiere 05/24