Den meisten Zuschauern ist Tilo Nest als Schauspieler bekannt. In Wuppertal gab er in der vergangenen Spielzeit mit Alan Ayckbournes „Schöne Bescherungen“ sein Debüt als Regisseur, mit „Nora“ folgt nun seine zweite Inszenierung. „In beiden Stücken spielt der Heilige Abend eine Rolle, beide gehen über drei Tage, und in beiden steht die Familie im Mittelpunkt“, spannt er einen gewollt virtuellen Bogen. Bewusst habe er sich bei seiner ersten Regie für eine gut gebaute Komödie entschieden. „Als Konsequenz gibt es nun etwas aus dem Klassiker-Kanon mit bürgerlichen Voraussetzungen.“
„Nora oder Ein Puppenheim" gehört zu den bekanntesten Werken des zu Lebzeiten wegen seiner Ansichten als skandalös geltenden Autors und gilt als Paradestück weiblicher Emanzipation. Vieles, so Tilo Nest, dreht sich um die Frage, ob es ein richtiges Leben im falschen gibt. Er versucht, das von Henrik Ibsen verfasste Stück, das 1879 uraufgeführt wurde, zu extrahieren und vorsichtig ins Heutige zu übersetzen. „Das geht gut.“ Nora und Helmer sind moderne Menschen, deren Leben zur Soap geworden ist. Nach außen ist alles, wie es sein soll, und gleicht einem Reklamespot für Bausparverträge oder Margarine. Er (Hanno Friedrich) macht Karriere, langsam, aber kontinuierlich und verlässlich. Er sichert Einkommen und Wohlstand als Basis des Glücks. Sie (Juliane Pempelfort) ist die Mutter seiner drei Kinder und Hüterin des adretten Heims, jung, hübsch und in der Gesellschaft wegen ihrer Manieren und Optik prima vorzeigbar. Für ihn könnte seine Welt nicht schöner sein, alles hat seinen nummerierten Platz, alles läuft, alles ist gut. „Nora dagegen ahnt vielleicht manchmal, dass in ihrer Ehe etwas unrund läuft. Aber sie hofft auf das ‚Wunderbare’“, erläutert Tilo Nest. Im Märchen werden Wünsche erfüllt, bei Ibsen und in seiner Inszenierung nicht.
Das Zuhause als Luftschloss
Nicht, weil Nora und ihr Mann nie auf Augenhöhe agieren, kommt es zur Zwangssituation. „Ibsen zeigt, wie schwer es fällt, aus sogenannten geordneten Verhältnissen auszubrechen.“ In diesem Fall ist der entscheidende Punkt die Erpressung Krogstads (Lutz Wessel), sie forciert den Ausbruch. Denn die Vorzeige-Nora hat ein dunkles Geheimnis. Als es ihrem Helmer so schlecht ging, dass er in einer teuren Kur gesunden musste, hat die werte Frau Gattin die Unschrift ihres kurz zuvor verstorbenen Vaters gefälscht, um an Geld zu kommen. Ausgerechnet Krogstad, Ex-Kommilitone und in subalterner Position bei Torvald beschäftigt, kennt die böse Tat. Und als er seinen Job zu verlieren droht, droht er den Helmers, alles auffliegen zu lassen. „Die Vergangenheit schlägt wie ein Blitz ein. Sie zeigt, dass vieles bloß Fassade ist, hinter der nichts steckt. Das Verhältnis stimmte von Anfang an nicht.“
Ausbruch aus dem goldenen Käfig
Im ersten Akt wird bei Tilo Nest das Foyer als Heim der Helmers bespielt. Die drei Kinder werden lediglich erwähnt, sie tauchen nie auf, existieren eigentlich nur auf dem Papier. Nora, ein bisschen bachstelzenartige Shopping-Queen, hält Haus und Hof zusammen. Richtig mit Geld umgehen kann sie nicht, das ist oberflächlich betrachtet schon das schlimmste Übel. Und wenn der Herr des Hauses mal eine Zigarettenpause macht, geht er dazu in sein Arbeitszimmer, wozu kurzerhand der Japanische Garten umfunktioniert wird. „Ich finde die Architektur des Schauspielhauses wunderschön“, sagt Tilo Nest, der so viel Fläche wie möglich für seine Inszenierung nutzen möchte. Dies ist seine Verbeugung vor der „Schönheit des Hauses, das jetzt dem Verfall überlassen wird“. Als „kleines Wandertheater“ geht es für den zweiten und dritten Akt an die eigentliche Spielstätte. Um Nora dreht sich nun die ganze Welt, die Personen um sie herum werden zu Spiegeln ihres Tuns. Hier gibt es das Ausmaß der Krise und eine Tiefe der Figuren zu entdecken. Gezeigt wird, wie stark es unter der spiegelglatten Oberfläche brodelt und die so püppchenhaft scheinende Nora ihr Herz in die Hand nimmt. Sie bricht radikal mit ihrer bisherigen Existenz. Ob die Frage, was Nora bewegt, als sie endgültig die Tür ins Schloss fallen lässt, beantwortet wird, wird sich in der Inszenierung zeigen.
„Nora oder Ein Puppenheim“ | Kleines Schauspielhaus Wuppertal | 8.(P)/10./20./23./28.2., 20 Uhr | www.wuppertaler-buehnen.de
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