engels: Herr Semler, warum wurden die Wolgadeutschen 1940 vertrieben? Christian Semler: Die offiziellen Erklärungen hierfür lassen sich zusammen- fassen in der Aussage, dass es sich seitens der sowjetischen Behörden um eine präventive Sicherheitsmaßnahme handelte. Man wollte eine mögliche Kollaboration mit der angreifenden Wehrmacht verhindern. Dafür gab es allerdings überhaupt keinen Anhaltspunkt. Die Wolgadeutschen hatten sich immer sehr loyal verhalten gegenüber der russischen Obrigkeit, egal welcher. Die Vertreibung traf übrigens nicht nur die Deutschen. Die im Kaukasus lebenden Inguschen und Tschetschenen wurden nach Zentralasien deportiert.
Besucher aus Wuppertal waren erstaunt, in der Wolgastadt Engels ein völlig intaktes Archiv über die Wolgadeutschen vorzufinden. Die Dokumente blieben von diktatorischen Zugriffen verschont. Warum? Die Siedlungsgeschichte geht auf Katharina die Große zurück. In den Drei- ßiger Jahren änderte sich die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung. Statt weiter das Großrussentum zu kritisieren, wurde die Zarenzeit verherrlicht. Davon mag jenes Archiv profitiert haben.
Ist das Thema Vertreibung eigentlich per se reaktionär?
Das bestreite ich. Meine Kritik am Bund der Vertriebenen ist eine politische. Der BdV weigert sich, bestehende Grenzen anzuerkennen. Es gab Widerstand bei der Aufnahme osteuropäischer Staaten in die EU. Andererseits hat es bezüglich des Themas Vertreibung einen Paradigmenwechsel in den letzten Jahrzehnten gegeben. Noch 1945 galt der Zwangsaustausch von Bevölkerungen als legitimes Mittel. Nach 1990 hat das Thema durch die ethnischen „Säuberungsaktionen“ im ehemaligen Jugoslawien an Bedeutung gewonnen. Wir haben inzwischen ein ganz anderes Bewusstsein. Vertreibung ist ein Angriff auf die Menschenrechte.
Wie sähe eine Zukunftsvision, beispielsweise durch Städtepartnerschaften, aus? Unterstützungen sollte man, um böses Blut zu vermeiden, der ganzen Kommune zukommen lassen und nicht nur einer bestimmten Gruppe.
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