Kein Zweifel: Das Internet ist gut für die Demokratie. Wer sich eine Meinung zu irgendeinem x-beliebigen Thema bilden möchte, der hat im Jahr 2017 Zugriff auf so viel Wissen wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Der Meinungspluralismus ist gewachsen: Jeder hat die Möglichkeit, seine Meinung kundzutun und Millionen Menschen nutzen das. Der Austausch mit Menschen gleicher oder anderer Meinung ist heute rund um den Globus möglich, und das innerhalb von Sekunden. Internet-Experte Sascha Lobo schrieb Ende November letzten Jahres in einer seiner Kolumnen für das Magazin Spiegel zum Thema „Lügenpresse“: „Verstärkt wird dieser Effekt durch die im 20. Jahrhundert ausgebildete Haltung innerhalb der Medien, sich als Gatekeeper zu betrachten, also als Entscheidungsinstanz, was man dem Publikum auf welche Weise in welcher Tiefe mitteilt und was nicht. In Zeiten sozialer Medien aber ist diese Haltung ohne ständige Selbsterklärung, Transparenz und Fehlerkultur obsolet geworden“.
Wer sich politisch einbringen möchte, kann das schneller und einfacher. Während man früher einen Brief schreiben, telefonieren oder das persönliche Gespräch suchen musste, reicht heute ein Facebook-Posting mit einer Verlinkung, um gehört zu werden. Gerade Lokalpolitiker werden immer mehr über die sogenannten Sozialen Netzwerke erreicht oder greifen ihre Themen in dem Netzwerk ab. Petitionen können heute so schnell erstellt werden wie noch nie. Auf Plattformen wie change.org oder openpetition.de können Menschen Unterstützer für ihre Ideen finden. Der Petitionsausschuss des Bundestages bietet an, Petitionen per Online-Formular und digitaler Ausweiskontrolle in einer E-Petitionen-Plattform einzureichen.
Die Transparenz ist durch das Internet gestiegen. Als Beispiel dafür gilt Schweden. In dem skandinavischen Land gibt das Finanzamt das Arbeits- und das Kapitaleinkommen jedes einzelnen Bürgers weiter. Bereits seit 1776 sind dort die Steuerdaten öffentlich, Norwegen zog nach und stellte die Daten 2001 komplett ins Netz. Das führte dazu, dass die Löhne insgesamt um 4,8 Prozent stiegen, weil die Vergleichbarkeit zu vielen Jobwechseln geführt hatte. Politiker fordern hierzulande bereits länger, das skandinavische System aufzugreifen.
Und dennoch kein Zweifel: Das Internet ist schlecht für die Demokratie. Extremistische Feinde des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen können sich so leichter zusammenrotten. Die „Filterblase“ verstärkt den Eindruck, dass viele andere Nutzer meiner Meinung sind. Dadurch werden Menschen bestärkt, auch mit extremen oder extremistischen Gedanken richtig zu liegen. Wer eine Menge Likes für sein wütend eingetipptes „Flüchtlinge raus“ kassiert, der erfährt über das Netz schnellere Bestätigung als je zuvor – und oft auch keinen Widerspruch, denn durch die Filterblase hat er sich vielleicht vorher eh nur Menschen in seinen Freundeskreis geladen, die seine Meinung teilen. Noch einmal Lobo: „Wer ‚Lügenpresse‘ schreit, will nicht bloß auch seine Meinung in den Medien sehen, sondern ausschließlich seine Meinung […] Die sozialen Medien sind Gefühlsmedien, bei denen man sich – jeder sich! – in einer unendlichen Erregungsspirale verfangen kann“. Das kann dazu führen, dass antidemokratische Kräfte jedweder Couleur nicht nur im Netz ihre Wut auslassen, sondern auch außerhalb tätig und tätlich werden.
Es ist außerdem leichter geworden, Meinungen durch Emotionen statt Fakten zu beeinflussen. Fake News – oder „alternative Fakten“, wie es die Sprecherin der neuen US-Regierung nannte – spalten die Gesellschaft. Die Politik streitet momentan mit den Internetkonzernen, wie man mit solchen bewussten Lügen umgehen soll, die ihre Verbreiter durch Werbung oft sogar reich machen. Bots und Trolle, die massenhaft aufrüttelnde Kommentare absondern, tummeln sich in Netzwerken und Foren und verwischen so das Meinungsbild. Ein laut waberndes Geschrei lässt den Nutzer mit dem Eindruck zurück, die Welt sei schlecht und es müsse sich etwas ändern.
Und jetzt? Kein Zweifel: Erst wenn die schlechten Auswirkungen überwunden sind, wird das Internet dem Menschen den erhofften Nutzen bringen. Und damit Teil einer freien, demokratischen Welt sein. Wie so oft steht sich hier der Mensch selbst im Weg. „Erfolgreich sind wir nur da, wo wir nutzen, nicht, wo wir ausnutzen“, sagte der Ingenieur Werner von Siemens. Hehre Wünsche für eine Gattung, die oft nur nach dem eigenen Vorteil trachtet. Aber auch im Netz stirbt die Hoffnung zuletzt.
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