Es war einmal ein Troll. Er saß den ganzen Tag in seiner Trollhöhle und bewegte sich maximal, um seinen Stoffwechsel in Gang zu halten. Sein Tagewerk bestand aus dem, was Trolle auszeichnet: Stänkern nur um des Stänkerns Willen. 200 Kommentare schreibe er am Tag, berichtete der Troll der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die mit ihrem Artikel im September 2014 für Aufsehen sorgte – und das nicht nur im Netz, dem natürlichen Lebensraum des Trolls. In ihrem Bericht verfolgte die FAZ das Leben eines Frührentners, der sich einen neuen Job ausgesucht hatte: Das Trollen im Internet.
Trolle, das sind nicht mehr allein Fabelwesen aus der nordischen Mythologie. Trolle werden auch Menschen genannt, die im Internet Kommentare hinterlassen, allein um zu provozieren. „Wie ein Orgasmus“ sei es für ihn, wenn die Provokation ankommt und immer mehr andere Internetnutzer darauf anspringen. Der Grat, auf dem sich der Troll bewegt, ist schmal. Die Polizei ermittelte bereits wegen Volksverhetzung.
Wenn es jetzt nur einer wäre. Doch es reichen wenige Minuten, um zu sehen, dass Internetforen, Videoportale und soziale Netzwerke zu Plattformen für Beleidigungen und Mobbing verkommen sind. Als „gutes“ Beispiel dienen regelmäßig Videos von und mit deutschen Rappern. In den Kommentaren bei YouTube wird häufig drauflos geschrieben, als ob es kein Morgen gibt. Konstruktive Kritik an der Musik? Selten. Haben die Künstler einen Migrationshintergrund, ist die Diskussion vorherzusehen. Sie driftet ab in rassistische Auswürfe in jedwede Richtung.
„Ich rolle mit meim Besten“ heißt das letzte Video des Offenbacher Rappers Haftbefehl, das er mit dem Rostocker Marteria aufgenommen hat. Im Text der beiden Rapper geht es schon nicht zimperlich zu. Ein Auszug aus den Kommentaren erübrigt eigentlich jede Diskussion, ob nicht mal jemand mit einem digitalen Besen durch YouTube fegen sollte: „Verpiss dich du Hurensohn“, „Sprich mal deutsch oder verpiss dich zurück in dein Land“, „Halt deine Fresse du minderbemitteltes Untermenschwesen“, „Haftbefehl is ne Missgeburt“… und diese Recherche hat ungefähr 25 Sekunden gedauert. 2,9 Millionen Mal wurde das Video angesehen, 2.548 Kommentare hinterlassen.
Was bewegt Menschen dazu, sich im Internet dermaßen unter jeglichen Gürtellinien auszuleben? Und wird eigentlich irgendetwas dagegen getan?
Die Antwort auf die erste Frage liefert Jörg Ziercke, Noch-Chef des Bundeskriminalamtes (BKA). „Wer anonym handeln kann, der ist eher bereit, Grenzen zu überschreiten und Rechtsverletzungen zu begehen. Internetkriminalität führt zu einer Entpersonalisierung kriminellen Verhaltens: Wer im Internet mit einem Mausklick Tausende schädigt, der muss seinen Opfern nicht in die Augen sehen. Das heißt, die psychologische Hemmschwelle ist für den Täter im Internet deutlich niedriger“, sagte Ziercke im Gespräch mit der Zeitung Die Welt. Psychologen sind sich einig, dass das Netz als Abfalleimer für Wütende und Frustrierte dient.
Um die zweite Frage mit einem Ja beantworten zu können, braucht es mehr. Vor allem Zeit. Und damit Geld. Vorratsdatenspeicherung schön und gut, aber wer soll das eigentlich alles lesen? Zwar kann die Polizei in Deutschland die Ausgabe von IP-Adressen der Kommentarschreiber verlangen. Bei 2.548 Kommentaren unter einem Video würde es allerdings dauern, bis alle Fälle zugeordnet sind. Gerade, wenn ein Shitstorm hereinbricht, überstürzen sich die digitalen Ereignisse, so dass man kaum mit dem Erfassen hinterherkommt. Noch länger würde die Strafverfolgung dauern. Und die Justiz ächzt schon jetzt unter der Last laufender Verfahren.
Oft gibt es nicht einmal entsprechende Statistiken. Das BKA hat 130 Mitarbeiter in einer Dienststelle zur Bekämpfung von sogenannter Cybercrime eingestellt. Dort geht es aber eher um geldbezogene Fälle wie Phishing (Diebstahl von Zugangsdaten für Bankkonten), Betrug oder Erpressung. Im Cybercrime-Jahresbericht 2013 des BKA taucht das Wort „Beleidigung“ gar nicht erst auf. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen erfasst immerhin, ob das Internet als Tatwerkzeug diente. NRW-Justizminister Thomas Kutschaty hatte nach einer Anfrage der CDU-Fraktion Zahlen offengelegt, die rasant ansteigen. 2010 gab es 643 Fälle von Bedrohung oder Beleidigung per Internet. 2014 waren es schon 3.855. Die Aufklärungsquote lag jeweils bei knapp über 70 Prozent.
Ist es eine Lösung, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wie jüngst geschehen entscheidet, dass Forenbetreiber für die Inhalte (und damit die Beleidigungen) mitverantwortlich sind und haftbar gemacht werden können? Das könnte dazu führen, dass viele Internetforen aus Angst vor Konsequenzen eingestampft werden. Auch das ist ein schmaler Grat.
Aktiv im Thema
www.freiherr-knigge.de | Webseite von Benimm-Berater Moritz Freiherr Knigge
www.bündnis-gegen-cybermobbing.de | Verein Bündnis gegen Cybermobbing
www.bka.de | Das Bundeskriminalamt bietet Infos zu Internetkriminalität
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