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Roland Mönig
Foto (Ausschnitt): Andreas Fischer

„Es geht bei ihm ja immer um Löcher und Schnitte“

26. September 2024

Direktor Roland Mönig über „Lucio Fontana: Erwartung“ im Von der Heydt-Museum – Sammlung 10/24

Im Interview spricht Direktor Roland Mönig über „Lucio Fontana: Erwartung“ im Wuppertaler Von der Heydt-Museum. Es ist die erste deutsche Einzelausstellung von Werken des Künstlers (1899- 1968) seit 30 Jahren.

engels: Herr Mönig, ich denke, nur mit einem Schnitt in der Leinwand wird man Lucio Fontana nicht gerecht, oder?

Roland Mönig: Das ist absolut korrekt. Der Schlitz in die Leinwand ist die berühmte Geste, die Fontana in aller Welt bekannt gemacht hat. Mit ihr – und mit dem Durchlöchern der Bildfläche, das ihm vorausgeht – hat er die Kunstgeschichte verändert. Das Loch, hat Fontana gesagt, ist seine entscheidende Erfindung. Aber er kann viel mehr. Sein Werk, das wir hier anhand von 100 Arbeiten von den 1930er Jahren bis zu seinem Tod 1968 zeigen, ist überraschend vielstimmig, manchmal auch unbequem. Und das wollen wir sichtbar machen, denn das ist in keiner Ausstellung in Deutschland seit fast 30 Jahren geschehen. Die letzte Fontana-Retrospektive hierzulande fand 1996 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt statt. 

Warum wurde Fontana in Deutschland so lange nicht gewürdigt?

Wenn ich Ihnen diese Frage nur beantworten könnte! Es ist jedenfalls sehr erstaunlich, wenn man an Fontanas Bedeutung denkt – und ein Glück für Wuppertal und ein Geschenk für uns. Denn wir haben damit die Möglichkeit, Fontana auf diese Weise wieder stärker ins Licht der Öffentlichkeit zu heben. Fontana – deshalb geht es bei ihm ja immer um Löcher und Schnitte – hat mit einem eigentlich bildhauerischen Ansatz versucht, das Thema Raum für das 20. Jahrhundert neu zu denken. Man darf nicht vergessen, er ist 1899 geboren und hat eine Zeit enormer wissenschaftlicher Fortschritte erlebt, in der sowohl neue Außen- wie Innenwelten aufgestoßen wurden. 1900 legt Freud mit seiner „Traumdeutung“ die Basis für die Psychoanalyse, 1905 veröffentlicht Einstein seine Spezielle Relativitätstheorie und dann entwickelt sich die Raumfahrt. 1946 entstehen die ersten Bilder der Erde aus dem All. 1947 macht Fontana seine ersten Lochbilder. 

Muss man Fontanas Lebenszeit unbedingt beachten?

Ja! Ab 1946/47 und bis zu seinem Tod 1968 verändert Fontana die Kunst und erweitert ihre Möglichkeiten. Und er tut das Seite an Seite mit ganz jungen Leuten, mit Künstlerinnen und Künstlern, die mindestens eine Generation jünger sind. Auch heute – und das ist ein wichtiger Grund, wieder über ihn nachzudenken – beschäftigen sich wieder viele Zeitgenossen mit ihm. Was Fontana im Grunde gemacht hat, ist virtuelle Räume zu öffnen. Seine historische Position lässt sich also mit aktuellen Erfahrungen verbinden, denn durch die Digitalisierung erleben wir gerade, wie die virtuellen Räume um uns wachsen. 

Was ist im Von der Heydt-Museum zu sehen?

Da komme ich fast ins Schwärmen. Wir zeigen rund 100 Arbeiten von Lucio Fontana, und das ist von der Quantität her schon sehr beeindruckend. Aber auch inhaltlich können wir eine Menge bieten, denn wir beginnen mit den frühen 1930er Jahren, in denen er sich von seinem Studium freischwimmt und seine eigene Position bezieht: mit abstrakten und figürlichen Arbeiten zugleich. Fontana ist also ein komplexer Künstler. Und dann kommen 1940er bis 1960er Jahre mit den epochemachenden Setzungen – den berühmten Schnitt- und Lochbildern. Wir zeigen aber auch die weniger vertrauten Aspekte: Wir zeigen Fontana als Zeichner, als Bildhauer, der mit Keramik arbeitet. Und wir zeigen, dass Fontana ein Konzeptkünstler war. Er hat ja seine Arbeiten ab einem bestimmten Punkt fast alle „Concetto spaziale“, also Raumkonzepte, genannt. Ein spektakulärer Hingucker wird zweifellos die passgenaue Rekonstruktion einer seiner kaum mehr bekannten Rauminstallationen. 

Seine Environments (raumbezogene Installationen, Anm. d. Red.) kennen sicher nur wenige?

Alle kennen die Schnittbilder, kaum jemand kennt diese Environments. Aber gerade sie sind aus heutiger Sicht spannend. Mit ihnen beginnt eigentlich die Geschichte der sogenannten immersiven Formate – eines aktuellen Trends, der zurzeit durch die Digitalisierung stark befeuert wird. Fontana arbeitet natürlich noch analog – aber mit dem gleichen Anspruch, den Besucher komplett einzuhüllen, ihn in die Kunst einzutauchen zu lassen und ihm ein Totalerlebnis zu bieten. Fontana ist auch da Wegbereiter gewesen. 

Wie sieht es mit Skulpturen aus?

Die Skulpturen sind ausgesprochen überraschend in vielen Hinsichten. Fontana hat ja, obwohl er als Konzeptkünstler gedacht und gearbeitet hat, parallel immer auch viel figürlich gearbeitet. Und er hat sehr gerne zum Material Keramik gegriffen. Seine flinken Hände haben da erstaunliche Dinge modelliert – Dinge von großer Beweglichkeit und mit einem enormen Charme. Hier sieht man, dass Fontana, so sehr er auch Konzeptkünstler war, immer wusste, was er mit dem Material machen konnte. Ohne diese Sensibilität für das Material, für die Dinge funktionieren die Konzepte nicht. 

Fontana ist nicht Rembrandt oder Warhol. Wie bringt man für ihn ein Publikum ins Museum?

Das werden wir sehen. Fontana gehört zu den großen Namen des 20. Jahrhunderts. Es ist ein Künstler, der – ähnlich wie in den 1910er Jahren Malewitsch oder Duchamp – Grenzen verschoben hat. Aber abgesehen davon, dass man immer mal wieder seine Schnittbilder sieht, in den Medien manchmal auch in merkwürdigen Zusammenhängen, ist er kein wirklich populärer Künstler. Aber er ist einer, der uns heute sehr viel zu sagen hat. Weil er immer wieder die Frage nach der Realität stellt, nach dem Material und danach, wie wir als Menschen – mit dem Geist und mit dem Körper – uns mit Raum auseinandersetzen können. Das ist für mich auch eine Möglichkeit zu zeigen, welche Kraft in einer Kunst, die dinglich, analog ist, für unsere digitale Zeit steckt. Und ich hoffe, dass sich dafür Leute begeistern lassen. 

Was bedeutet denn der Titel „Erwartung“?

„Erwartung“ – da sind wir wieder am Anfang – ist der Untertitel, den Fontana ab Ende der 1950er Jahre seinen Schnittbildern gegeben hat. Sie heißen „Attesa“ (Erwartung), wenn da ein Schnitt drin ist oder „Attese“ (Erwartungen), wenn es mehrere sind. Darin steckt auch eine Vision, eine Vorstellung von Freiheit: die Freiheit des Raumes, den er mit dem Schnitt in die Leinwand öffnet. 

Lucio Fontana: Erwartung | 5.10.2024 - 12.1.2025 | Von der Heydt-Museum, Wuppertal | 0202 563 62 31

Interview: Peter Ortmann

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