Die Geste ist einladend. Der Mann, der im weißen Hemd am Tisch sitzt, erhebt das Rotweinglas und beugt sich mit wachem Blick zu seinem Gast. Die Flasche selbst ist umgekippt und der Wein ergießt sich als Wasserfall bunter Farben über das weiße Tischtuch. Unberührt bleiben die Rosenzweige, die als Scherenschnitte auf der anderen Hälfte des Tisches ausgelegt sind. Einzelne Rosen sind auf dem Holzboden verstreut, über den sich Figurengruppen verteilen, die in Gedanken und Handlungen vertieft sind oder Kontakt nach außen aufnehmen. Umfangen wird das Geschehen von Wandmalereien und Skulpturen. Der Blick springt zwischen den vielen pittoresken Details, den temperamentvollen Figuren und ihren Gesten hin und her, wendet sich den Tieren genauer zu und folgt dem nomadisierenden Zug an der Wand.
Die Gesellschaft erweitert sich zum Staatswesen, die zwischenmenschliche Beziehung zum staatstragenden Geschehnis, und bei aller Feierlaune scheint der Konflikt – oder die Erinnerung an diesen – nicht fern: Was Anna Boghiguian in ihrer Installation anhand kleiner formaler Feuerwerke in volkstümlich anschaulichen und dabei tiefsinnigen Bildern – wie auf einem Marktplatz – zeigt, handelt vom Zusammenleben der Menschen. Es handelt vom Feiern und Streiten und sich Versöhnen, aber auch von Vereinnahmung und von Zerstörung – und vielleicht ja auch davon, dass die alten Geschichten immer wiederkehren und sich die Menschen nicht ändern.
Konkreter Ausgangspunkt der ganzen Ausstellung im Museum Ludwig, die noch Bildsequenzen und ein Künstlerbuch mit Aquarellen umfasst, ist das Gedicht „Die Schlacht bei Magnesia“ des griechischen Dichters Konstantin Kavafis (1863-1933). Es handelt vom römisch-seleukidischen Krieg 190 v.Chr. mit den Gegnern Philipp V. aus Makedonien und dem unterliegenden Antiochus III., der trotz der Niederlage und der vielen Toten auf ein geplantes Fest nicht verzichten möchte. Was bei Kafavis über das historische Ereignis hinaus als Gleichnis zu verstehen ist, öffnet sich bei Anna Boghiguian – und in der visuellen Sprache, die die historische Faktizität in Poesie verwandelt – umso mehr zur universellen Botschaft.
Anna Boghiguian ist eine Weltkünstlerin: Was ihr Leben betrifft, was ihre Bekanntheit betrifft und was die visuelle Lesbarkeit ihrer Kunst betrifft, in der sie Geschichte und Gegenwart reflektiert, die großen Metropolen der Welt aufsucht und deren Technisierung und den Verbleib der Traditionen beobachtet. Ihre Familie stammt aus Armenien. Geboren wurde sie 1946 in Kairo, wo sie in den 1960er Jahren Politik- und Wirtschaftswissenschaften studiert hat. In den frühen 1970er Jahren hat sie in Montreal Kunst und Musik studiert. Heute lebt sie wieder in Kairo, reist aber ständig und bereitet ihre vielen Ausstellungen an Ort und Stelle vor. Erst seit einem Jahrzehnt aber erhält ihr Werk die verdiente Anerkennung, seitdem nahm sie an unzähligen Biennalen und der documenta teil und erhielt den Goldenden Löwen der Biennale Venedig. In Köln wurde sie nun mit dem Wolfgang-Hahn-Preis ausgezeichnet – und revanchiert sich dafür mit dieser wunderbaren, leichten und ernsthaft-eindringlichen Ausstellung.
Anna Boghiguian | bis 30.3. | Museum Ludwig | 0221 22 12 61 65
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Den Cartoons wohnt eine Zeitlosigkeit inne“
Kuratorin Sarah Hülsewig über die Ausstellung zu Loriot in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen – Sammlung 12/24
Fließende Formen
Isamu Noguchi im Museum Ludwig – Kunst in NRW 06/22
Richter zu Ehren
Gerhard Richter im K21 und Museum Ludwig – Kunst in NRW 03/22
Die Fakten zu den Bildern
Marcel Odenbach in Köln und Düsseldorf – Kunst in NRW 12/21
Film als Engagement
Günter Peter Straschek im Museum Ludwig in Köln – Kunst in NRW 04/18
Gefühl und Realismus sind Geschwister
Die Vielseitigkeit der Ellen Keusen – Kunst in NRW 04/15
Ernsthaft ironisch
Sigmar Polke im Museum Ludwig in Köln – Kunst in NRW 04/15
Archiv und Ausstellung
Die Sammlung Stenger im Museum Ludwig – Kunst in NRW 09/14
Schönheit ohne Glamour
Museum Ludwig zeigt Ausstellungen zur Dokumentarischen Fotografie – Kunst in NRW 07/14
Fünf Türen
Sehr amerikanisch: Die Neupräsentation der Sammlung des Museum Ludwig in Köln – Kunst in NRW 10/13
Die Welt als Suppe
„Vida y Muerte“ von Miquel Barceló in Duisburg – kunst & gut 02/25
„Er hat sich den Berserker der Malerei genannt“
Kuratorin Anna Storm über „Maurice de Vlaminck. Rebell der Moderne“ im Von der Heydt-Museum – Sammlung 01/25
„Ein lebendiger Ort“
Kuratorin Isabelle Meiffert über „Shared Spaces“ in der Kunsthalle Barmen – Sammlung 11/24
Schnittige Raumkonzepte
Lucio Fontana im Von der Heydt-Museum – kunst & gut 11/24
„Entscheidend ist, überzeugend in seiner Arbeit zu sein“
Die Wuppertaler Bildhauerin Beate Schroedl-Baurmeister ist auf der 60. Kunstbiennale in Venedig vertreten – Interview 11/24
Der Kombinator
Eduardo Paolozzi im Skulpturenpark Waldfrieden – kunst & gut 10/24
„Es geht bei ihm ja immer um Löcher und Schnitte“
Direktor Roland Mönig über „Lucio Fontana: Erwartung“ im Von der Heydt-Museum – Sammlung 10/24
Pinselschwung aus Plexiglas
Berta Fischer im Skulpturenpark Waldfrieden – kunst & gut 09/24
Freie Form
„Jean Fautrier – Genie und Rebell“ im Emil Schumacher Museum Hagen – kunst & gut 08/24
„Auch die Sammler beeinflussen den Künstler“
Kurator Markus Heinzelmann über die Ausstellung zu Gerhard Richter in Düsseldorf – Sammlung 08/24
Stofftier und Poltergeist
Mike Kelley im Düsseldorfer K21 – kunst & gut 07/24
„Der haarlose Körper wird als ein Ideal stilisiert“
Kuratorin Ellen Haak über „Hairytales“ im Düsseldorfer Museum Kunstpalast – Sammlung 07/24
Nicht nichts
100 Jahre Abstraktion im Wuppertaler Von der Heydt-Museum – kunst & gut 06/24
„Keine klassischen Porträtfotografien“
Kuratorin Kerrin Postert über „UK Women“ in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen – Sammlung 06/24