„Nicht viel zu sehen“ – der Titel der Ausstellung ist natürlich Understatement, ein neckischer Kuratorenscherz. Das Gegenteil ist der Fall. Sämtliche Räume und Kabinette der oberen Museumsetage sind reichlich gefüllt mit Werken aus der eigenen Sammlung, rund 90 Bilder und Skulpturen von 70 Künstlern und Künstlerinnen. Hier entfaltet sich ein überraschend facettenreicher Parcours rund um Kunst, die auf ganz unterschiedliche Weise nichts Sicht- und Greifbares aus der realen Welt abbilden will. 100 Jahre Abstraktion: von der klassischen Moderne (Kandinsky, Klee, Albers u. a.) über Konkrete Kunst, Informel, surrealistische Traumbilder und Monochromie bis hin zu ganz aktuellen Tendenzen.
Tatsächlich ist richtig viel zu entdecken, nicht nur in der gesamten Ausstellung, sondern auch auf den einzelnen Werken. Selbst Jean Fautriers informelles Gemälde, das zum Ausstellungstitel inspirierte, „Not much to look at“ von 1959, hat was drauf: elliptische Pinselschwünge auf hellem Hintergrund – zwar ohne Gegenstandsbezug, doch grafisch und malerisch spannend und kraftvoll. Und Energie zu visualisieren ist schließlich nicht nichts. Die Ausstellung setzt sich u.a. mit Rhythmik, Dynamik von Farbe und Form, Helligkeit und Dunkelheit sowie Farbräumen auf Bildflächen auseinander. Außerdem behandelt sie die Fragen danach, was Bilder überhaupt sind und was Malerei kann. Kunst-Fastfood ist das nicht, sondern ein ästhetisch vielfältiger Genuss. Vergleichendes Sehen und Einfühlung in Schaffensprozesse schärfen hierbei die Wahrnehmung ungemein. Hilfreich ist, neben Wandtexten und detaillierteren Werk-Infos in der App, dass die Museumskuratorin Beate Eickhoff sich für eine thematische, nicht streng chronologische Hängung entschieden hat und ältere Arbeiten mit aktuellen Werken kombiniert, wo sie Ähnlichkeiten sah.
Der Auftakt zeigt Größe. Der erste, hohe Raum versammelt Monumentalformate aus allen Jahrzehnten: etwa eine feurig rote, tachistische Farbexplosion von George Mathieu (1957) und eine gestisch expressiv besprayte, knallbunte Riesenleinwand von Katharina Grosse (2014), die aufgrund ihrer Größe bislang selten zu sehen waren, neben erstmals präsentierten Neuerwerbungen u. a. von Moritz Neuhoff, der Malschichten und Strukturen verwebt (2022), und überdimensionalen Regenwaldfotografien von Hans-Christian Schink, die an malerische „All-over“-Strukturen von Pollock erinnern. Malerei prägte den fotografischen Blick. Und selbst wenn – Überraschung! – in vermeintlich ungegenständlichen Bildern doch Dinge oder Figuren auftauchen, hier Laub und Bäume, in den weiteren Räumen mal Räder, Dosen, Hände, ein Adler, so sind die nicht als Abbildungen zu lesen, sondern ästhetischer Ausdruck von Ideen, Traumbildern, Empfindungen. Befreite Malerei! Für solche Aspekte schärft sich der Blick auf dem Rundweg von den Anfängen in den 1920er Jahren bis hin zu zeitgenössischer Farbmalerei, die im lichtdurchfluteten Oberlichtsaal am Ende des Parcours mit voller Leuchtkraft zur Geltung kommt. Im Vergleich der künstlerischen Positionen und Entwicklungen wird offensichtlich: Die Erfindung der Abstraktion hat den Blick auf Kunst verändert – und die Geschichte geht weiter.
Nicht viel zu sehen. Wege der Abstraktion 1920 bis heute | bis 1.9. | Von der Heydt-Museum, Wuppertal | 0202 563 62 31
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