Lucio Fontanas Werk besteht aus durchlöcherten oder aufgeschlitzten Leinwänden. Wer das denkt, muss umdenken: Die Retrospektive im Von der Heydt-Museum präsentiert hierzulande völlig unbekannte Facetten des bereits 1968 verstorbenen italienisch-argentinischen Künstlers. Fontana (geb. 1899) war auch abstrakt-figurativer Zeichner, Bildhauer und Keramiker. Wissenschaftlich und technisch interessiert, speziell von Weltraumforschung begeistert, experimentierte er mit unterschiedlichsten künstlerischen Techniken und Materialien. Ein umtriebiger Netzwerker war er, Vorbild und Mentor für deutlich jüngere Künstlergenerationen wie z.B. Zero. Immer auf Fortschritt aus, immer in Bewegung und Bewegungen, als Verfasser zahlloser Manifeste zur Erneuerung der Kunst. Locker vereinte er Barock und Bauhaus, kunsthandwerkliches Töpfern und begehbare Farblichträume in seinem Œuvre, wobei es ihm letztlich immer um Innovation ging: um neue Konzepte für Raumerfahrungen.
Sein Markenzeichen, die ikonischen Schnitt- und Lochbilder, sind dabei zweifellos seine stärksten Statements. Sie verletzen und öffnen zugleich, erlauben ganz neue Durchblicke. Welche befreiende Sprengkraft diese Schlüsselwerke in den 1950er Jahren entfalteten, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Ebenfalls kaum zu glauben, dass es seit fast 30 Jahren keine museale Einzelausstellung Fontanas in Deutschland gab. Das Wuppertaler Museum, selbst im Besitz von vier seiner Arbeiten, konnte nun in Kooperation mit der Mailänder Fondazione Lucio Fontana und mit Leihgaben aus rheinländischen Museen und Privatsammlungen rund 100 Werke zusammentragen.
Der erste Raum bietet einen Überblick mit großformatigen Beispielen aus Fontanas wichtigsten Werkreihen: Neben „Concetto spaziale“-Wandstücken in unterschiedlichsten Farben und Formen überzeugen latent unheimliche, schrundige schwarze Bronzekugeln mit Öffnungen in ein unergründliches Inneres. Im Anschluss zeigen Themenräume einzelne Schaffensbereiche. Nach launigen Künstlerporträts aus der Kamera seines Fotografenfreundes Lothar Wolleh zum Auftakt wird Fontana zunächst als stilistisch vielfältiger Zeichner und Keramiker vorgestellt, als Schöpfer buntglasierter Reiterkämpfe und Kreuzigungsszenen. Ein großer Raum widmet sich ganz den „Raumkonzepten“ mit Löchern und Schlitzen in unterschiedlichen Farben. Werke aus der Museumssammlung von befreundeten Künstlern, die Fontana inspirierte, ergänzen dies. Der große Oberlichtsaal am Ende des Rundgangs, der andere Ausstellungen oft schlüssig abrundete, wird zum Fontana-freien Anhängsel und zeigt Werke u.a. von Graubner, Long und Calder, die sich auch mit Raum befassten.
Den kraftvollen Höhe- und Schlusspunkt setzt zuvor schon ein kleineres, fensterloses Seitenkabinett mit der Rekonstruktion des begehbaren Farb-Licht-Raums „Ambiente spaziale con Neon“, den Fontana 1967 für seine Ausstellung in Amsterdam entwarf: mit pinkfarbener Wandbespannung und einer gebogenen Neonröhrenkette als leuchtender „Luftschnitt“ unter der Decke. Eintauchen in Pink – 50 Jahre, bevor „immersiv“ zum Kunstbegriff wurde. Auch hier war Fontana ein Wegbereiter.
Lucio Fontana: Erwartung | bis 12.1.2025 | Von der Heydt-Museum Wuppertal | von-der-heydt-museum.de
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