Internationale Bauausstellung … war einmal. Kulturhauptstadt … blinkt noch zwei Monate. Das kommende Leuchtturmprojekt heißt „Innovation City“: Bis 2020 soll es in einem Ruhrgebiets-Musterquartier die klimaschädlichen CO2-Emissionen halbieren, über alle Grenzen als Modell strahlen - und nebenbei in eine Expo-Weltausstellung münden. Fünf Städte(kombis) fiebern nun dem 5. November entgegen, wenn der Initiativkreis Ruhrgebiet den Casting-Sieger küren will. Es geht um Investitionen in Milliardenhöhe.
Im geografischen Herzen des räumlich weit gefassten Reviers hat man schon einmal eine Reporterin auf Zeitreise geschickt. Vom Gipfel der alten Kraftwerkshalde Scholven schaut die Dame im Jahr 2050 auf eine erheblich veränderte Landschaft, in der „vor 40 Jahren die Energiewende mit einem Übergang zur CO2-freien Industrie begann“: Wo einst Eon-Schlote qualmten und eine Raffinerie Rohöl zu Benzin crackte, breitet sich nun ein Wasserstoffzentrum aus, das Windstrom von der Nordsee in Energie für Brennstoffzellen verwandelt. Die elf Kilometer lange „Allee des Wandels“, eine frühere Zechenbahn, säumen Hunderte Kleinwindanlagen. Ökologisch top-sanierte Gartenstadt-Wohnquartiere - einst Bergmannssiedlungen - haben längst Ingenieure aus der einstigen Automobilregion Stuttgart angelockt. Und an den Ortsrändern grasen Steppenrinder als Bestandteil einer „Urban Farming“ getauften Konzeption zur standortnahen Nahrungsmittelerzeugung. Tropenfrüchte eingeschlossen.
So weit kann es kommen, wenn man die Ruhrgebietsstädte zum ausgiebigen Überlegen einlädt. Der Initiativkreis Ruhrgebiet (IKR), eine Ansammlung teilweise hochpotenter Industrieadressen, tat dies in diesem Jahr. Gefragt ist die Konzeption für ein hochgerüstetes Modellquartier der Zukunft, das „erstmals innovative Technologien zum Wohle des Bürgers und des Klimas in einem größeren System zusammenführt“.
Als Vorbild hätten entsprechende Initiativen in Abu Dhabi und Malmö gedient, räumt IKR-Öffentlichkeitsarbeiterin Delia Bösch ein: „Aber dort waren es komplett neue Strukturen. Wir wollen erstmals mit den Beständen arbeiten, die da sind.“ Neue internationale Standards sollen am Ende herauskommen. Und natürlich neue internationale Marktchancen - insbesondere die Energiewirtschaft will einen Teil ihrer Investitionen durch weltweiten Export „grüner Technologien“ wieder hereinholen.
Bis zu 2,5 Milliarden Euro dick soll die Wurst sein, nach der anfangs 16 Ruhrgebietsstädte sprangen. Inzwischen sind in der Finalrunde nur noch fünf Wettbewerber im Rennen. Mülheim, Bottrop, Essen, Bochum und der Städtebund Gelsenkirchen-Herten trieben in den vergangenen Monaten ihre lokalen Planungsstäbe zu Bergen von Überstunden, um Anfang Oktober rechtzeitig ihre Bewerbungsmappen beim IKR abgeben zu können. Die Hektik lässt sich in manchen Broschüren erahnen, wo ein aufmerksames Lektorat vielleicht doppelte Absätze vermieden hätte oder Abbildungen, in denen Windanlagen kunstvoll zwischen Bäume drapiert wurden, wo sie sich eher nicht ertragreich drehen könnten. Aber solche Kleinigkeiten werden wohl kaum zählen, wenn die mit diversen Fachleuten gespickte IKR-Jury Anfang November den „Klima-Superstar“ kürt.
Wie macht man nun ein etwa 70.000 Einwohner zählendes Projektgebiet zum energetischen Musterquartier, in dem sich binnen zehn Jahren der CO2-Output halbiert? Wenig überraschend haben die fünf Städte darauf im Prinzip ziemlich ähnliche Antworten gefunden: Es gilt, vor allem den älteren Gebäudebestand und seinen Wärmeverbrauch mit effektiven Dämmprogrammen zu sanieren. Es wird notwendig sein, Mobilität anders zu gestalten. Und kein Weg führt daran vorbei, die Chancen zur Energieproduktion aus erneuerbaren Quellen so umfassend wie möglich zu nutzen. Ganz entscheidend komme es aber auf einen Wandel in den Köpfen an, meint Thorsten Schlautmann als Sprecher der Essener Bewerbung. „Die große Chance könnte darin liegen, die Menschen dafür zu sensibilisieren, wirklich energieeffizient zu leben.“ Das fängt vielleicht damit an, künftig den Arbeitsplatz per (E-)Fahrrad anzusteuern. Und es hört mit der Beteiligung an speziellen Finanzierungsfonds für Car-Sharing-Elektromobile sicher nicht auf.
Denn das ist gewiss: Finanzielles Engagement wird auch von den BürgerInnen miterwartet. In der künftigen „Innovation City“ fällt das nötige Geld eher nicht als nationales oder europäisches Förder-Manna vom Himmel. Zwar habe der Initiativkreis errechnet, dass „etwa 80 Prozent der erforderlichen Maßnahmen“ zuschussberechtigt sind, sagt Delia Bösch. Und das Land habe mit 500.000 Euro auch eine spezielle Projektgesellschaft angeschoben, die den „Innovation-City“-Sieger mit Rat und Tat begleiten soll. Aber: „Derzeit liegt kein Geld auf einem Konto herum.“
Sofern Bösch damit den IKR meint, hat sie vermutlich recht. Anders sieht es freilich bei Industriekonzernen wie RWE und Eon aus, die über gut gefüllte Kassen verfügen - und von denen mehr als nur symbolische Beiträge erwartet werden. Aber auch private Hausbesitzer sollen animiert werden, etwa für Wärmedämmung eigenes Geld in die Hand zu nehmen. Wer einmal mit dem Chef einer Volksbank-Filiale in einem bürgerlich geprägten Stadtteil spricht, wird sich schwer wundern, welche Sparvermögen seine Kunden horten. Die Vergangenheit zeigte, dass sie durchaus bereit sein können, diese Mittel auch für ihre Stadt einzusetzen: Hertener Bürger beteiligten sich beispielsweise an einem Fonds, mit dem eine kommunale Windkraft-Anlage auf einer Halde finanziert wird.
Neben den großen Leitgedanken (Gelsenkirchen Herten schlägt etwa eine „Sonderwirtschaftszone“ für Investitionen vor) haben die städtischen Wettbewerber eine Vielzahl von „kleinen“ Ideen entwickelt, die beträchtlichen Charme entwickeln. Hier sind es Straßen- und Schaufensterbeleuchtungen, die auf energiesparende LED-Technik umgerüstet werden sollen. Dort wird überlegt, örtliche Pizza-Bringdienste auf „Vespa verde“, also leise und emissionsfreie Elektroroller umzurüsten. Mülheim empfiehlt seinen ersten „Null-Energie-Supermarkt“ zur Nachahmung, der nur die Hälfte Strom und Wärme braucht … und diese auch noch selbst erzeugt. In Bottrop entwickelten Schüler dagegen einen kleinen „Quadrocopter“, der - mit Messtechnik versehen - schwer zugängliche Stellen anfliegen und unter die Lupe nehmen kann. Und Bochum will mit den Wohnungsgesellschaften aushandeln, leer stehende Räumlichkeiten in „Home-Offices“ umzuwandeln, die nicht nur berufstätigen Eltern lange Fahrwege zu ihren üblichen Arbeitsplätzen ersparen könnten.
Sämtliche Initiativen, hat der Initiativkreis Ruhrgebiet bestimmt, sollen auch jenen Städten kostenlos zur Verfügung stehen, die im Titelrennen das Nachsehen hatten. „Es gibt keine Verlierer“, heißt es aus Essen, und dass die Projektgesellschaft allen 16 Wettbewerbern bei der Beantragung von Fördermitteln helfen werde.
Mit der geforderten CO2-Einsparung von 50 Prozent hat der Initiativkreis die „Innovation-City“-Latte übrigens sehr hoch gehängt. So hoch, dass einzelne Städte nicht nur unter der Hand einräumen, dieses Ziel sei bis 2020 schwerlich zu erreichen. „Die Halbierung geht nicht in diesem Zeitraum“ heißt es beispielsweise aus dem Bochumer Rathaus, wo man sich als mit dem goldenen „Energy-Award“ ausgezeichnete Kommune bereits auf einem recht niedrigen Level sieht. Auch Mülheims Baureferatsleiter Klaus Beisiegel betont, dass seine Mitarbeiter „sehr realistisch gerechnet“ hätten und auf eine Reduzierung von 41 Prozent gekommen seien: „Aber die schaffen wir.“
Wer am Ende (also am 5. November) mit welchem Konzept zur „Innovation City“ ernannt wird, ist derzeit völlig offen - auch wenn manch ein Medienbeobachter meint, es laufe - entgegen des Proporzes - erneut auf eine Stadt hinaus, die mit „E“ beginnt und mit „ssen“ endet. Keine Spekulation ist freilich, dass sich das Ruhrgebiet als Platz einer Weltausstellung „Expo Fortschrittsmotor Klimaschutz“ im Jahr 2020 bewerben könnte. Denn dieses Ziel haben SPD und Grüne nicht nur in ihrem Koalitionsvertrag aufgeführt. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft signalisierte auch in ihrer Regierungserklärung, die Bundesregierung um Unterstützung bei der Bewerbung zu bitten. In Essen hat man schon einen geeigneten Ort ausgeguckt - den Kleinflughafen Essen-Mülheim. Aber auch Gelsenkirchen und Herten halten ihr Gelände um den „Nukleus“, das Energie-Anwenderzentrum auf dem Gelände der früheren Zeche „Westerholt“, für außerordentlich geeignet.
Wenn die besagte Reporterin im Jahre 2050 also den besagten „Energieberg Scholven“ erklimmt, könnte sie an seinem Fuß durchaus noch ganz andere Dinge entdecken als im Inno-City-Bewerbungskonzept vorgesehen. Bis dahin ist es freilich noch lange hin, die Dame muss wahrscheinlich erst einmal geboren werden. In Gelsenkirchen Herten glaubt man allerdings an die Kraft der Vision: „Jede Gegenwart hat einmal als Zukunft angefangen.“
www.innovationcityruhr.de
DIE GEGNER:
Bochum
Bio-Kohle
Von Querenburg bis Langendreer will Bochum „Anders neu leben“. Nicht nur Uni und Ruhr-Park stehen zur Totalsanierung an - auch 70% der Wohnbestände sollen Neubauniveau erreichen. 5% Elektrofahrzeuge würden 2020 täglich Abgase aus 40.000 Benzin-Kilometern ersparen. Ein „Glückauf“ gilt der „Bio-Kohle“: Gepresster Grünschnitt, Laub und Klärschlamm lässt sich CO2-neutral verheizen - oder in den Boden einbringen, wo er das Klimagas über Jahrhunderte festhält.
Bottrop
Wärme auf Rädern
Bottrop punktet schon mit „grünem Wasserstoff“ aus Klärgas, der Linienbusse antreibt. Auf drei Gewerbeflächen arbeitet man zudem am „Zero-Emissions-Park“ - Tendenz ausbaufähig. Die Stadt, in der der weltschnellste Elektro-Renner (Brabus) getunt wird, will E-Autos so erschwinglich machen: Basisfahrzeug kaufen, Antriebseinheit (mit Batterie) leasen. Originell auch das Projekt „LaTherm“ auf Rädern: Kokerei-Abwärme geht in einen Wasser-Container, der woanders eine Grundschule beheizt.
Essen
Der Wille zählt
Im nördlichen Gürtel um die City will Essen seine Stärken als „Energie-Metropole“ ausspielen. Neben energetischer Sanierung der Uni-Gebäude, Einsatz von Geothermie und Elektrofahrzeugen reifen auch ungewöhnliche Ideen RWE hat auf dem Meteorit-Gelände ein Pförtnerhäuschen zur Radstation mit Duschgelegenheit umgerüstet - wer mit dem Rad kommt, soll nicht müffeln müssen. Das größte Potenzial sieht man in einer umfassenden Bürger-Motivationskampagne.
Gelsenk./herten
„Nukleus“ im Fokus
Wärme aus der Wurstfabrik: GE-Herten zapft Herta an und will heißes Wasser in nahe liegende Gärtnereien und Bauernhöfe leiten. Fernwärme soll „grüner“ werden, wenn Biogas und Holzpellets die Steinkohle ersetzen. Zur Kofinanzierung von Bürger-Aktivitäten wollen beide Städte eine gemeinsame Stiftung gründen. Augenfälliges Zentrum neben dem Wasserstoff-Park ist der „Nukleus“, ein Energie-Anwenderzentrum mit 1.000-Meter-Photovoltaikdach.
Mülheim
Sonne anzapfen
Zwischen Broich und Winkhausen geht Mülheim mit der „Klimazone“-Initiative auf CO2-Reduzierungstour. Auch der neue FH-Campus soll nach Möglichkeit CO2-neutral ausfallen. Bis 2020 will die Stadt 1.000 Elektrofahrzeuge auf der Straße sehen. Der nötige Strom kommt dann eventuell von kilometerlangen Photo-
voltaikwänden, die längs der A40 entstehen sollen. Oder von Hausdächern: 20% der Wohngebäude sollen für Sonnenstrom und -wärme erschlossen werden.
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