Albert Camus war Mitte zwanzig, als er 1938 die legendenumrankte Lebensgeschichte des bloß fünf Jahre, von 37 bis 41, regierenden römischen Skandal-Kaisers Caligula zum Stoff für sein erstes Drama machte. Dem Vernehmen nach ging es dem Autor darum, dessen leidenschaftlichen Drang nach dem Unmöglichen in seiner absoluten Maßlosigkeit darzustellen. Für Regisseur Martin Kloepfer, der nach „Die Lotterie in Babylon“ zum zweiten Mal in Wuppertal inszeniert, ist das Stück inhaltlich der „Modellversuch, die Freiheit an ihre Grenzen zu treiben, und das ist ein Thema, das mich interessiert“. Das ist zeitlos, das passt in den aktuellen gesellschaftlichen Kontext, „Caligula sieht die ganze Welt als Playstation“, Bezüge habe er längst über Bord geworfen, und das ist ein Generationskonflikt, der die Frage aufwirft, in welcher Art von Gemeinwesen wir uns befinden.
Jenseits der Moral
„Caligula“, entstanden nach Albert Camus’ Lektüre von „De vitae Caesarum“, ist eine Tragödie über Maßlosigkeit und absoluten Machtwillen. Der vom Drang nach dem Absoluten besessene Caligula („Soldatenstiefelchen“) ist zunächst weniger ein brutaler Despot, sondern ein intellektueller Verbrecher. Wie bei einer Versuchsanordnung im Labor geht er seine Experimente an, der junge Mann, der als frisch gekürter Kaiser wie ein Superstar gefeiert wird. „Die Bevölkerung ist zunächst total auf ihn abgefahren“, erklären Dramaturg Sven Kleine und der Regisseur. Ins Hier und Jetzt übersetzt und salopp gesprochen ist er ein Spätpubertierender, auf den aus Steuergründen der Familienbetrieb übertragen wird. Gefeiert wurde der Monarch (auch) deshalb, weil man ihn für eine willfähige Marionette hielt. Die Patrizier wollten ihre Pfründe sichern und ihren Besitz wahren, und fanden sich deshalb mit dem Herrscher ab – so lange er machte, was sie wollten. Plötzlich aber, die Schwester stirbt, verhält sich Caligula nicht mehr der Staatsräson entsprechend, und vor allem nicht, wie seine Umwelt es erwartet. Frei von moralischen Verpflichtungen formuliert er nicht bloß eigene, sondern extreme Gedanken. „Er will das Unmögliche möglich machen.“
In der Versuchsanordnung seines Stückes stellt Camus nicht vornehmlich philosophische Fragen – wenngleich seine existenzialistisch begründeten Sinnfragen natürlich auch hier über allem stehen – sondern bezieht soziale Positionen. Es gelten keine Regeln mehr; was man sonst als Mitglied eines sozialen Gefüges der Gemeinschaft schuldig ist, wird nicht erbracht. Martin Kloepfer beschreibt das als eine Art Amoklauf, als „die Suche nach einer Äußerungsform eines melancholischen Jungen“.
Willensexzesse und Nihilismus
Ist Caligula ein Tyrann, ein Irrer, ein ausgeflippter Führer? „Mit heutigen Begrifflichkeiten“, so Martin Kloepfer, „ist er nur wenig zu beschreiben. Er nimmt die Dinge beim Wort, das ist seine Krankheit.“ Dieser Radikalismus, die Dinge bis zum Ende zu führen, zeichnet den manisch-depressiven Paranoiker, diesen launischen Despoten aus. Die Logik in ihrer klassischen Form hebt er aus den Angeln, liebt es, zu diskutieren und um drei Ecken zu denken. In einer moralisch derangierten Gesellschaft ist er ein einsamer Junge mit Hang zum Wahnsinn, der ungebremst von Vernunft und sozialer Kompetenz die Welt denkt, wie es ihm gefällt.
Weil er immerzu etwas will, das über die bislang geltenden Grenzen hinausgeht, hat er auch mit der Gummizelle zu tun, in der sich die Gesellschaft befindet. Also legt er nach, schikaniert seine Untertanen, um zu checken, was sie alles mitmachen, erdulden, ertragen. Wenn das Geld das Nonplusultra ist, kann ein Menschenleben nicht das Nonplusultra sein. Behauptet Caligula. Seine Paarung von Zynismus mit Macht ist mörderisch. An seinem Vorhaben, Himmel und Meer zu vermischen, das Schöne und das Hässliche und Glück und Leid einzuebnen, also Grenzen zu verwischen, daran scheitert er. Fast kindlich versucht dieser Kaiser, Grenzen auszuloten, und wartet sehnsüchtig darauf, dass es endlich jemanden geben möge, der sich auflehnt, Gegenargumente liefert oder sogar Gegenthesen entwickelt. Mit diesen Zumutungen will er Gegenpositionen erzwingen. Emotionslos beschreibt Caligula (Gregor Henze) beispielsweise seiner Geliebten Caesonia (Sophie Basse) angesichts der getroffenen Enterbungs- und Entleibungspläne, das sei Pädagogik. Er schraubt also den willkürlichen Staatsterror in immer schauerlichere Höhen, um gemäß der ihm eignen Logik die von ihm Drangsalierten zum Widerstand, zur Rebellion zu reizen. Selbst als er bei Albert Camus unter den Dolchspitzen der Verschwörer zusammenbricht, provoziert er: „Ich lebe immer noch!“ – was auch als Aufforderung verstanden werden kann, dass die Verpflichtung zum Widerspruch als Widerstand nie endet.
Wie funktioniert Gesellschaft? Wie funktioniert Politik jenseits der zivilisatorischen Fairness? Welchen Sinn hat das Leben und welchen die Macht? Camus zeigt, dass nicht allein die Herrschaft eines Machtbesessenen mörderisch ist, sondern auch die verzweifelte Suche eines ursprünglich Machtuninteressierten, der nach dem Sinn dieser Macht sucht.
„Caligula“
Premiere: Fr, 14.1.
Kleines Schauspielhaus Wuppertal
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