Was sollen das eigentlich für Leute gewesen sein, diese sogenannten Bohemiens, heute als so etwas wie Hipster verklärt? Giacomo Puccini setzte ihnen mit „La Bohème“ ein Denkmal. Auch in der bei der Premiere umjubelten Inszenierung an der Wuppertaler Oper ist der Plot geblieben: Offensichtlich pleite und ziemlich vergnügt hausen in dem zugigen Atelier Rudolfo (Iago Ramos) und seine Kumpels. „Bereichert Euch“ steht in schwarzen Lettern an der blutrot gestrichenen Wand des Lofts. Das ist weniger pekuniär als in ideellem und emotionalem Sinne gemeint. Jenseits bürgerlicher Konventionen leben Rudolfo und seine Freunde für ihre Kunst. Für sie kann es kein richtiges Leben im falschen geben, also dulden sie keine Einengung im Sinne einer regelmäßigen Berufstätigkeit oder Paarbeziehung.
Wie ehrlich diese Bedingungslosigkeit auf der Suche nach dem Echten und Wahren tatsächlich ist, erfährt Schriftsteller Rudolfo am Weihnachtsabend. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft ihn die Liebe: Mimi (Sylvia Hamvasi), die tuberkulosekranke Näherin aus dem zugigen Kellerloch, steht bei ihm auf der Matte. Der Schriftsteller, der bislang Liebe als lockere Aneinanderreihungen unverpflichtender Flirts interpretierte, ist überwältigt von der Frau, verliebt sich. Weil die Liebe eine Himmelsmacht ist, ist plötzlich alles anders, und bei einer turbulenten Party im Quartier Latin gibt er Treueversprechen, bei denen jedem Schwiegervater das Herz aufgehen würde.
Aber ein Happy End kann es nicht geben. Nicht nur, weil Mimi todkrank ist. Gefühlslegastheniker Rudolfo ist seinen ausufernden Emotionen nicht gewachsen, und Eifersucht führt bekanntermaßen nie zu schönen Szenen.
Dass die Premiere in der Oper so umjubelt war, hat gute Gründe. Anstelle von Pathos und großen Gesten stehen Eleganz und Leichtigkeit im Vordergrund. Bei ein bisschen Understatement als Interpretation entpuppt sich jeder Takt Puccinis in dieser kurzweiligen Inszenierung als Juwel. Das Ensemble ist glänzend aufeinander eingestimmt. Iago Ramos singt den Rudolfo wunderbar, als ginge es um sein Leben, und dann auch doch wieder nicht, ein Unsteter, der das eine will und doch das andere nur kann. Die traurige Traumpartie der Mimi sang bei der Premiere Sylvia Hamvasi exzellent. Nie muss sie Druck ausüben, um sich gegen Mitsinger oder das tadellose Orchester zu behaupten. Und dass die Sterbeszene übertrieben und kitschig wirkt, liegt am Stück, nicht an ihr.
Das Bühnenbild kommt mit wenigen stilistisch sinngebenden Mitteln aus. Mahnend blinkt eine Leuchtreklame an der Rückseite Rudolfos Atelier. „Spare mit uns“ leuchten einzelne Münzen den Weg in eine imaginäre Sparbüchse. Und die Weihnachtsparty im Quartier Latin ist eine ausgeflippte Party, die Künstlerclique muss draußen bleiben, und drinnen hat sich ein Teil der Feiernden ausstaffiert wie umherstolzierende Bachstelzen auf der Kö. Alles zusammen macht „La Bohème“ unbedingt sehenswert.
La Bohème: 2,5 Std. I nächste Aufführungen: 2./23./30.10. I 0202 569 44 44
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Schäferwagen und Hexenhaus
„Hänsel und Gretel“ am Opernhaus Wuppertal – Auftritt 11/24
Ohne Firlefanz
Premiere von „Salome“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 10/24
„Im Stück steckt ganz viel Politik drin“
Regisseurin Barbara Büchmann über „Der einzige Mann am Himmel bin ich“ in Wuppertal – Premiere 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
„Macht und Machtspiele“
Intendant Thomas Braus über die neue Spielzeit am Wuppertaler Schauspiel – Premiere 09/24
Zahlreiche Identitäten
6. Hundertpro Festival in Mülheim a.d. Ruhr – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Weltstars in Wuppertal
Größen der Rock- und Pop-Szene gastieren im LCB – Porträt 07/24
Unterhaltsame Kurzweil
„Die lustigen Weiber von Windsor“ am Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 07/24
„Schauspielerfahrung schult perspektivisches Denken“
Schauspieler Thomas Ritzinger hat mit „Die letzte Nachtschicht“ einen Roman geschrieben – Interview 07/24
Bewegte Geschichte
Soziokulturelles Zentrum Die Börse in Wuppertal – Porträt 06/24
„Wir sind eher im sozialkritischen Drama zuhause“
Regisseur Peter Wallgram über „Woyzeck“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 06/24
Jack the Ripper im Opernhaus
Ausblick auf die Spielzeit der Wuppertaler Bühnen – Bühne 05/24
Richtig durchgestartet
Der Wuppertaler Verein Insel – Porträt 05/24
Ethel Smyth und Arnold Schönberg verzahnt
„Erwartung / Der Wald“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 05/24
„Eine Geschichte, die keinen Anfang und kein Ende hat“
Die Choreograph:innen Thusnelda Mercy und Pascal Merighi über „Phaedra“ in Wuppertal – Premiere 05/24
Auf die Melancholie die Liebe
Theatergruppe Bamboo inszeniert frei nach Georg Büchner – Bühne 04/24
Teuflischer Plan
Senecas „Phaedra“ am Theater am Engelsgarten – Prolog 04/24
„Es geht nicht mehr um den romantischen Naturort“
Manuel Schmitt inszeniert „Erwartung / Der Wald“ an der Oper Wuppertal – Premiere 04/24
Von der Liebe enttäuscht
Premiere von Georg Friedrich Händels Oper „Alcina“ in Wuppertal – Auftritt 04/24
„Das Klügste ist, dass man die Polizei gar nicht sieht“
Anne Mulleners inszeniert „Falsch“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 03/24
„Wir hoffen, dass die Geschichte neu wahrgenommen wird“
Regisseurin Julia Burbach inszeniert „Alcina“ an der Oper Wuppertal – Premiere 02/24
„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24
„Wir haben uns absolut gegen den großen Stein entschieden“
Regisseurin Hannah Frauenrath über „norway.today“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 12/23
Knechtschaft und Ungerechtigkeit
„Cinderella“ im Opernhaus Wuppertal – Oper 12/23