Was macht ein durchschnittliches Ehepaar, wenn zwei erschöpfte Engel im Garten landen? Die Antwort in Zeiten universaler Ökonomisierung liegt nahe: Mr. und Mrs. X.E. nutzen ihre Chance, vermarkten das unverhoffte Geschenk, stellen die Engel zur Schau. Rupfen ihnen die Federn aus den Flügeln, auf dass sie ja nicht entkommen können. Und verscherbeln ungeniert Spiritualität und Sexualität, als seien die Grundkräfte menschlicher Existenz nur das, wozu sie oft genug gemacht werden: Handels- und Konsumgüter.
Hätte die in China geborene und in New York lebende Multitalent-Künstlerin Du Yun eine Oper allein über Menschenhandel, Missbrauch und Ausbeutung schreiben wollen, hätte es ausgereicht, zwei gestrandete Jugendliche – Migranten, prekäre Existenzen, Abhängige – in die Fänge des Ehepaares geraten zu lassen. Aber es bleibt in der Oper „Angel’s Bone“ nicht beim Sozialdrama. Die „Engel“ ziehen mit ihrem magischen Realismus eine andere Ebene ein: Die Federflügel, die das Team um Bühnen- und Kostümbildner Sammy van den Heuvel für die Wuppertaler Inszenierung in liebevoller Kleinarbeit gestaltet hat, transzendieren diese Engel: Werden sie ausgenutzt, geschändet, vergewaltigt, stehen Prinzipien einer glückenden menschlichen Existenz auf dem Spiel.
Die Banalität des Bösen
Das ist es auch, was sich die X.E.s – die Namen sind nicht ohne Hintersinn nur abgekürzt genannt – eigentlich erhoffen. Irgendwie sollen die Engel ihrem Dasein eine neue Wendung, eine erfüllte Richtung geben. „Mercy, Mercy, Mercy“ schreit die Frau am Ende verzweifelt flehend: Aber Vergebung, Gnade, Erbarmen bleiben aus. Es nützt auch nichts mehr, dass Mr. X.E. die Engel wieder wegfliegen lassen will. Das Geschenk ist ruiniert. Am Ende bleiben der Tod und die Stilisierung zum Opfer: „Ich wollte nie eine Legende sein“, sind die letzten Worte der Frau, gesprochen in einer imaginären Fernseh-Show, bevor Du Yun ihr radikal verdichtetes Musiktheater abrupt im Dunkel enden lässt, mit einem hässlichen Knistern, als hätte jemand den Stecker gezogen.
In diesen unter die Haut gehenden 80 Minuten erfahren wir, wie die Reduktion auf Geld- und Nutzwert Täter und Opfer zerstört. Das Ehepaar handelt nicht aus Bosheit, sondern sucht einen zweckrationalen Ausweg aus seiner Enttäuschung über die unerfüllten Wünsche nach einem guten Leben. Und so ebnet es der Banalität des Bösen den Weg, das seinen Höhepunkt in der schonungslos gezeigten Schändung des „Girl Angels“ durch Mr. X.E. (Zachary Wilson als unauffälliger Durchschnittstyp) erreicht. Es hat schon einige brutale Vergewaltigungs-Musiken gegeben – von Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ bis Andre Prévins „A Streetcar named Desire“. Aber Du Yun reißt musikalisch noch einmal eine andere Dimension auf: Der verletzliche Punksong, den Anna Angelini anstimmt, ihr Wimmern, Jammern, Stöhnen, Heulen, exzessives Durchdrehen, packt erbarmungslos zu, erlaubt es dem Zuhörer nicht, in die Distanz des „Kunstgenusses“ zu entkommen.
Töne, die man so schnell nicht vergisst
Auch Edith Grossmann als Mrs. X.E. schenkt sich nichts: Das Spektrum ihrer vokalen Exaltation geht über Operngesang hinaus, setzt die Mittel der Kunst ein, überschreitet sie aber von der tonlosen Deklamation über die erstickte Klage bis zum brüllenden Ausbruch existenzieller Verlorenheit. Ebenso kompromisslos die Begegnung des „Boy Angel“ Jason Lee mit einer Kundin (Banu Schult), in der die vergeblichen Hoffnungen, die nach Ausweg gierende Verzweiflung in Töne gefasst werden, die man so schnell nicht vergisst. Du Yun lässt ihr Musiktheater mit dem Chor beginnen, dem Einstudierer Ulrich Zippelius eine immense Flexibilität abfordern muss: Zufällig wirkende Melismen begleiten die Zuschauer beim Zutritt in den Raum der Alten Glaserei an der Wuppertaler Nordbahntrasse. Sie verdichten sich, wenn das Stück beginnt, zu komplexem Wohlklang: Im gegenwärtigen amerikanischen Musiktheater hat man keine Angst vor tonaler Harmonik und keine Vorbehalte gegen Kitsch.
Später kann der Wuppertaler Opernchor in gregorianisch anmutenden Gesängen bewundernswerte Intonationsbalance beweisen, die Wucht des kommentierenden Singens nach Art der alten Oper entfalten oder sich rhythmisch sicher in Minimal-Music-Patterns bewegen. Auch das Orchester unter Johannes Witt sieht sich herausgefordert in komplexer Rhythmik und in der Koordination mit elektronischen Einspielungen: Am Anfang rauschen Alltagsgeräusche vorbei, am Ende dröhnt und schlägt es wie aus einer fernen Welt. Jorinde Keesmaat inszeniert auf den begrenzten Möglichkeiten einer T-förmigen Stegkonstruktion mit zielsicherem Blick für die Schlüsselmomente der einzelnen Protagonisten. Dennoch bleibt der Eindruck, dass Szenen wie das Zuschaustellen der Engel brisanter ausgearbeitet sein könnten.
Markanter Auftakt
Rebekah Rota hat mit dieser Produktion zu Beginn ihrer Intendanz an der Wuppertaler Oper ein markantes Zeichen gesetzt. Auch in den kommenden Spielzeiten plant die vormalige Opernmanagerin am Staatstheater Karlsruhe zeitgenössische Oper mit der Perspektive auf soziale Verhältnisse. Als Amerikanerin wird sie dabei wohl auch einen vertieften Blick für die Musiktheaterszene jenseits des großen Teichs mitbringen. Dort gibt es viel zu entdecken, wie Du Yuns 2017 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Oper mitreißend bewiesen hat. In Wuppertal steht ab 22. Oktober das nächste Großprojekt an: Im Opernhaus, das derzeit von den Folgen eines Wassereinbruchs im Juli 2021 befreit wird, inszeniert der Filmemacher, Performer, Klang- und Videokünstler Martin Andersson Richard Wagners „Tristan und Isolde“; es dirigiert der Wuppertaler GMD Patrick Hahn.
Angel’s Bone | 8., 9., 10.9. | Oper Wuppertal (Alte Glaserei) | Info: 0202 563 76 66
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