Sonja Lämmel (44) ist Oecotrophologin und Pressesprecherin vom Deutschen Allergie- und Asthmabund e.V. (DAAB).
engels: Frau Lämmel, in Sachen Allergien: Ist die Welt für Kinder heute gefährlicher oder sicherer als vor 50 Jahren?
Sonja Lämmel: Grundsätzlich ist es so, dass leider immer mehr Kinder Allergiker sind. Positiv ist hingegen, dass wir Allergiker besser behandeln können – wenn die Beschwerden früh diagnostiziert werden. Außerdem ist die Aufmerksamkeit gegenüber Allergien gestiegen, gerade, wenn man an Kindergärten und Schulen denkt. Die Akzeptanz ist in der Gesellschaft auch größer. Allergiker werden ernst genommen.
Welche Fortschritte hat die Kindermedizin gemacht?
Wir sind von der Diagnostik her viel weiter. Wir können spezifisch feststellen, welche Auslöser eine Rolle spielen – wie zum Beispiel bei einer Erdnussallergie. Heute können wir detailliert testen, so dass wir sagen können, ob eine Gefahr des allergischen Schocks besteht. Dafür sind bestimmte Eiweiße in der Erdnuss verantwortlich. Harmloser sind hingegen die Pollen. Wir können das aufsplitten.
Wie sieht es bei der Prävention und Behandlung aus?
Sonja Lämmel (44) ist Oecotrophologin und Pressesprecherin vom Deutschen Allergie- und Asthmabund e.V. (DAAB).
Bei der Prävention haben wir noch vor fünf, sechs Jahren empfohlen, Hauptauslöser im Säuglingsalter zu meiden. Heute wissen wir, dass das der falsche Weg war. Kinder sollten frühzeitig mit Allergieauslösern in Kontakt kommen, damit sie eine Toleranz entwickeln können. Zur Behandlung von Schocks muss man sagen, dass die natürlich sehr plötzlich auftreten, aber eher selten sind. Präventiv ist die Information der Eltern und Kinder das Wichtigste, damit diese Schocks erst gar nicht entstehen.
Können Allergien die Folge von zu viel Hygiene sein?
Das ist eine Hypothese, die sich immer mehr bestätigt. Wir sagen, dass das Immunsystem sich langweilt, wenn Kinder klinisch sauber aufwachsen. Es ist oftmals besser, wenn Kinder auch mal im Dreck spielen oder einen Infekt durchmachen. Dadurch wird das Immunsystem bei Laune gehalten.
Ist das vergleichbar damit, wenn Erwachsene sich durch Sport abhärten?
Genau. Eine konkrete Empfehlung ist natürlich schwierig – soll das Kind im Matsch toben oder ab in den Kuhstall? (lacht) Aber es gibt Studien, die beweisen, dass Landkinder mit Kontakt zur Natur weniger Allergien haben.
Welche Allergien sind am weitesten verbreitet?
Bei Kindern sind es vor allem Allergien gegen Grundnahrungsmittel. Das war früher schon so. Hausstaubmilben und Tierhaare spielen immer noch eine große Rolle. Gesteigert hat sich gefühlt auch die Zahl der Pollenallergiker, selbst im frühen Kindesalter. Wir haben Zweijährige in der Beratung, die bereits eine massive Pollenallergie haben.
Liegt das auch an den Pollen?
Meiner Einschätzung nach werden die Pollen immer aggressiver. Birken- oder Ambrosiapollen zum Beispiel werden durch die Umweltbelastung immer unverträglicher. Ich glaube, dass das Immunsystem deshalb auch schneller reagiert.
Haben Unverträglichkeiten gegenüber Lebensmitteln zugenommen? Man hört ja nur noch von Gluten- und Laktoseintoleranz…
Die tatsächliche Zahl der Betroffenen ist nicht angestiegen. Die Meinung ist, dass es so wäre. Das Thema ist jeden Tag in der Presse. Es werden Symptome zugeordnet. Gerade Glutenunverträglichkeit ist meines Erachtens ein gemachtes Krankheitsbild. Wir haben keine Möglichkeit der Diagnose und wissen nicht, was dort passiert. Sie dürfen eins nicht vergessen: Es gibt einen enormen Markt für gluten- und laktosefreie Produkte. Viele kommen mit Zwicken im Magen, Blähungen oder Durchfall. Dann heißt es: Das ist eine Unverträglichkeit – bevor es eine Diagnose gab.
Sie raten also, sich vom Experten untersuchen zu lassen.
Ja, gerade bei Kindern. Eine Glutenunverträglichkeit kann man übrigens gar nicht nachweisen, sondern nur die Zöliakie, eine ernst zu nehmende Darmerkrankung, bei der man lebenslang kein Gluten zu sich nehmen darf. Bei Kindern gilt: Wenn das Kind Bauchbeschwerden hat, erst einmal mit einem Arzt zu sprechen, und zu schauen, ob in der alltäglichen Ernährung etwas ist, was Schmerzen auslöst. Ist die Ernährung okay, kann man Tests machen. Ich habe aber nicht selten Kinder in Beratung, die bis zu 300 Gramm Obst und Saft zu sich nehmen – da würde jeder Schmerzen und Durchfall kriegen.
Neuerdings müssen Versorger Allergene im Essen kennzeichnen. Was halten Sie davon?
Für Allergiker ist das wichtig. Wie es in Deutschland gehandhabt wird, ist es allerdings eine Katastrophe. Der Sinn war, dass der Allergiker gleich sieht, welche für ihn gefährlichen Stoffe im Essen sind. Wir haben aber bislang nur eine vorläufige Verordnung. Es gibt keine Sanktionen und auch keine klaren Vorgaben. Das heißt, jedes Restaurant kann die allergenen 14 Stoffe unterschiedlich kennzeichnen.
Hat ein Allergiker heute einen weniger großen Verlust an Lebensqualität zu erleiden?
Es kommt immer darauf an, wie der Mensch mit seiner Krankheit umgeht. Durch gute individuelle Beratung kann der Allergiker heutzutage ganz normal am Leben teilnehmen. Natürlich gibt es Einschränkungen – zum Beispiel in der Zeit des Pollenflugs. Aber auch hier kann er sich informieren, denn es gibt mittlerweile gute Medikamente. Deshalb denke ich, dass die Lebensqualität gestiegen ist, wenn sich der Allergiker fundiert von Experten beraten lässt.
Also keine Selbstdiagnose im Internet.
Genau. Das ist oft ganz schrecklich. Man findet im Netz viel Gutes, aber es ersetzt niemals die Diagnose eines Facharztes oder die Beratung einer Ernährungsfachkraft.
Aktiv im Thema
www.kiggs-studie.de | Seite der Studie für Gesundheit von Kindern und Jugendlichen
www.dgaki.de | Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie
www.daab.de | Deutscher Allergie- und Asthmabund e.V.
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