Vor fünf Jahren erschütterte der Tod eines kleinen Mädchens die Stadt. Die damals fünfjährige Talea wurde von ihrer Pflegemutter leblos in der Badewanne aufgefunden. Schnell verdichteten sich die Anzeichen, dass eben diese Pflegemutter für den Tod des Kindes verantwortlich gewesen ist. Erzieherinnen des Kindergartens, in den Tabea regelmäßig ging, berichteten von blauen Flecken und Wunden, die das Mädchen oft hatte. Das Kind habe motorische Schwierigkeiten und falle deshalb oft und schwer, habe die Pflegemutter daraufhin dem Kindergarten und auch dem Jugendamt erklärend mitgeteilt. Erst als Tabea gestorben war, wurde die Aussage der Pflegemutter in Zweifel gezogen. Ein knappes Jahr später brachte der Prozess vor dem Landgericht Wuppertal die bittere Wahrheit ans Licht. Das Mädchen hatte ein monatelanges Martyrium durchlitten. Wegen geringsten Fehlverhaltens wurde es drakonisch bestraft. Weil es seine Hose eingenässt hatte, steckte die Pflegemutter das Kind in eine eiskalte Badewanne. Dies wurde dem Mädchen zum Verhängnis. Es starb an Unterkühlung. Auch Mitarbeiterinnen des Jugendamtes mussten sich damals vor Gericht wegen des Tatvorwurfs der fahrlässigen Tötung durch Unterlassung rechtfertigen. Ihnen konnte letztlich aber keine Straftat nachgewiesen werden. Trotzdem wurde in der Öffentlichkeit über das richtige Handeln der Behörde diskutiert. Kontrolliert das Jugendamt nicht hinreichend die von ihm eingesetzten Pflegeeltern?
Andere Fälle von Kindstötung in benachbarten Städten, bei denen die leiblichen Eltern und auch Stiefeltern die Täter waren, förderten die Skepsis bezüglich des richtigen Vorgehens von Jugendämtern und Familiengerichten. Ließ man gefährdete Kinder zu lange in bedrohlichen Situationen? Viele Jahre galt die Prämisse, die Kinder möglichst bei den Eltern in ihrem vertrauten Umfeld zu belassen. Zu schlecht war der Ruf der Kinderheime, die besonders nach dem Krieg bis in die 1960er Jahre ihre Bewohner wie Zuchthäusler behandelten. Durch spektakuläre Fälle, bei denen Kinder von Verwandten lange Zeit gequält oder sexuell missbraucht wurden, hat sich dieser Trend seit einigen Jahren wieder umgekehrt. Die stationäre Unterbringung von Kindern ist wieder rapide angestiegen.
Die pädagogisch begleitete Jugendwohngruppe hat die Fürsorgeerziehung ersetzt
Die Situation in den Heimen hat sich zudem in den vergangenen Jahren erheblich verbessert. Die Anstalten aus dem vorletzten Jahrhundert wurden häufig aufgelöst oder zumindest erheblich verkleinert. Die pädagogisch begleitete Jugendwohngruppe hat die Fürsorgeerziehung von vor 40 Jahren ersetzt. Mussten Heimkinder oft lange und schwer arbeiten, um für ihre notdürftige materielle Ausstattung zu sorgen, sind stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe inzwischen finanziell hinreichend ausgestattet. Auch die Fälle von schwerer Misshandlung oder sexuellem Missbrauch, die damals an der Tagesordnung waren, sind durch viele Maßnahmen der Träger und der Gesetzgeber fast unmöglich gemacht worden. Ombudsstellen sorgen dafür, dass sich Kinder und Jugendliche bei neutralen Personen beschweren können. Inzwischen darf in Heimen niemand arbeiten, der wegen eines Gewalt- oder Sexualdeliktes schon einmal verurteilt wurde. Dies erscheint zwar als Selbstverständlichkeit, ist aber erst nach Ratifizierung des neuen Kinderschutzgesetzes Standard.
Trotzdem zögern Behörden oft, Kinder aus ihren Familien zu reißen. Zum einen mag der Kostendruck hier eine Rolle spielen. Heimunterbringung ist um ein Vielfaches teurer als der wöchentliche Besuch einer Familienpflegerin in einer Problemfamilie. Auch ist die Trennung zwischen Eltern und Kindern immer ein traumatischer Eingriff, der nur zu rechtfertigen ist, wenn ansonsten noch größeres Unheil für die Kinder droht. Letztlich ist die Frage, ob ein Kind besser in seiner Ursprungsfamilie untergebracht ist, nur im Einzelfall zu lösen. Generell aber sollte Kindern aus problematischen Verhältnissen mehr Hilfe zur Verfügung gestellt werden. Die in den letzten Wochen entflammte Diskussion um die richtige Familienpolitik mag hier neue Aspekte ansprechen. Ist es wirklich sinnvoll, dass der Staat jährlich 200 Milliarden Euro für Kindergeld, Erziehungsgeld und Ehegattensplitting ausgibt, während viele Kindertageseinrichtungen nur mit dem Nötigsten auskommen? Wäre es nicht besser, statt durch staatliche Transferleistungen die klassische Kleinfamilie mit männlichem Verdiener und weiblicher Versorgerin zu alimentieren, gezielt dort Hilfsangebote zu schaffen, wo Kinder bedroht sind? Der Deutsche Kinderschutzbund, der im Mai sein 60jähriges Bestehen feiert und dessen Landesverband in Wuppertal angesiedelt ist, tritt energisch dafür ein, dass Präventionsmaßnahmen ausgebaut werden. Auch das Art-Fabrik-Hotel in Wuppertal unterstützt die Aktivitäten des Kinderschutzbundes. Deren Besitzer, die Eheleute Bethe, unterhalten eine Stiftung, die sich gezielt für Kinderschutz einsetzt. So bleibt ein Fazit, fünf Jahre nach dem Tod von Talea. Wo viel Schatten ist, ist auch viel Licht.
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