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„Der Futurologische Kongress“
Foto: Birgit Hupfeld

Ein Avatar nimmt zu viele Drogen

29. Juni 2017

Das Medienkunst-Kollektiv sputnic inszeniert in Dortmund „Der Futurologische Kongress“ – Auftritt 07/17

Es begab sich aber zu der Zeit, da das Sandmännchen in der ISS weilte und ein Quantenschaum-Modul an der Raumstation montieren sollte, damit die Menschheit glücklich werde und ihre Wiege zum Dasein ewig wäre, dass es abberufen wurde auf die blaue Kugel. Mit viel Pathos startete die animierte Puppenshow im Dortmunder Megastore, es sollte nicht nur die letzte Premiere in dieser Ausweichhalle werden, es sollte auch noch einmal zeigen, was in einem solch riesigen Raum alles möglich ist, und drei junge Männer zeigen eindrucksvoll, dass da eine Menge möglich ist. Das Sandmännchen heißt in diesem Fall Ijon Tichy und ist Stanislaw Lems berühmtester Raumfahrer, selbsternannter Wissenschaftler und Kämpfer für die reale Welt. Das adaptierte Stück ist „Der Futurologische Kongress“ von 1971, eine typische Lem-Reflexion vielleicht auch auf „wissenschaftliche“ Experimente der US-amerikanischen Armee mit LSD damals und natürlich eine genau durchdachte Dystopie auf die Menschheit. Dass die Menschen heute eher im Pawlowschen Sinne mit kleinen elektronischen Handapparaten von den Mächten konditioniert werden, hatte Lem übersehen müssen.

In Dortmund wird die Geschichte um den „Achten Weltkongress“ im 106-stöckigen Hilton Costricanas in einem hochtechnisierten „Bastel-Laboratorium“ mit Videoleinwand, wo ein Live-Animationsfilm entsteht, erzählt, den das Medienkunst-Kollektiv sputnic (Malte Jehmlich, Nicolai Skopalik und Nils Voges) inszenieren. Sie nennen ihre Regie-Idee „Live-Animation-Cinema“. Gesehen hat man das Konzept bereits bei Houellebecqs „Die Möglichkeit einer Insel“ vor zwei Jahren, damals noch im Großen Haus des Dortmunder Theaters. Die technischen Möglichkeiten entwickelt das Kollektiv immer weiter, der handgemachte Charme bleibt, auch in seiner vorsätzlichen Unvollkommenheit. Manchmal erinnert das auch an die animierte Science-Fiction-Fernsehserie „Thunderbirds“ und ihre International Rescue-Truppe Mitte der 1960er.

sputnic
Foto: Philip von Lethen

Zur Person

sputnic sind die Medienkünstler Malte Jehmlich, Nicolai Skopalik und Nils Voges. Mit der Inszenierung „Die Möglichkeit einer Insel“ kreierten sie 2015 das Genre „Live Animation Cinema“ und erhielten den Kritikerpreis der Stadt Dortmund.

Ein Vorteil der Versuchsanordnung von sputnic sind die Möglichkeiten, die verschiedenen Realitäten auf unterschiedlichen Bildebenen zu verteilen. Immer wieder erstaunlich und zum Niederknien ist das Multitasking-Potential der Dortmunder Schauspieler, oder ist das einfach so, dass der Zuschauer nicht merkt, wenn mal die falsche Folie erwischt wird? Auf diesen findet nämlich das eigentliche Wunder der Visualisierung statt. Kleine Kunststoff-Schiebestreifen bewegen die Personen (wie bei South Park), kleine Videokameras liefern die Bilder für die große Leinwand im Hintergrund. Und wenn es darum geht das Tichy gerade statt im Hilton in einer virtuellen Realität erwacht, wenn er sich darüber beschweren will, dann wandern die Schauspieler auch schon mal weg vom Labortisch in die Megastore-Ebene und machen „normales“ Theater, nun ja so ganz normal ist es eigentlich nie: T. D. Finck von Finckenstein erzeugt live auf der Bühne den Soundtrack, Uwe Schmieder (als Jean-Baptiste Emanuel Zorg aus „Das fünfte Element“) ist Professor Trottelreiner auf Speed, Frank Genser (er ist Tichy), mal eben ein paar Tage vorher für einen kranken Kollegen eingesprungen, ist auch schon mal die gelbe Ratte und Friederike Tiefenbacher und Marlena Keil (sie ist ein virtueller Tichy) wechseln Klamotten und Rollen im Minutentakt um dann wieder schnell ein Schiebestreifchen zu bewegen und auf den Knopf für Kamera und Mikro zu drücken und dabei noch die Puppenbühnen unter den Labortischen zu beleuchten. Apropos Klamotten, ein besonderes Lob an Vanessa Rust für die Kostüme.

Dass der Zentral-Computer wie in Isaac Asimovs „I, Robot“ die Macht übernimmt und die Wissenschaft mit philosophischen Gedanken wie „Ist die rote Rose im Finstern immer noch rot?“ in Verwirrung stürzt, ist eigentlich die interessantere Fragestellung als dieser ganze Drogenfaschismus, und ich finde, dies kommt in dieser Inszenierung nicht zu kurz. Ob alle Zuschauer die Hintergründe Stanislaw Lems durchschauen, spielt dabei keine Rolle, die meisten werden Zitate aus den „Matrix“-Hollywoodfilmen entdeckt haben, Lem durchstreifte damals in Gedanken sicher auch die Höhle Platons. Tichy und Trottelreiner jedenfalls finden sich kaum noch zurecht in den verschiedenen Realitäten. Am Ende bleibt Tichy nur noch die Wahl zwischen der roten und der blauen Pille, doch ob der echte Kaninchenbau nicht auch virtuell ist, das lässt Lem offen, ich bin sicher, dass er den Roman „Simulacron-3“ von Daniel F. Galouye 1964 gelesen hat. 

„Der Futurologische Kongress“ | R: Nils Voges (sputnic) | Fr 7.7. 19.30 Uhr | Theater Dortmund, Megastore | 0231 50 272 22

PETER ORTMANN

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