Stilvereint im Leibe. Ja wenn das zwischen Tugend und Sünde so einfach wäre. Else Lasker-Schüler hat diesen Versuch im Winter 1941 in Jerusalem unternommen. Herausgekommen ist ein Fragment, das am Ende unbearbeitet geblieben ist und immer als fast unspielbar galt. Erst im letzten Jahr wurde das Stück „IchundIch“ ins Hebräische übersetzt, sollte nach ihrem Tod 1945 eigentlich nie veröffentlicht werden, um das Ansehen der jüdischen Literatin nicht zu beschädigen. Doch es kam – glücklicherweise – anders.
In Wuppertal wurde das Fragment jetzt zu einem performativen Gesamtkunstwerk aus Theater, Tanz, Film und Gesang – und das auf einer Bühne, die selbst als Konzeptkunst gelten könnte. Es war ein Highlight im Jubiläumsjahr des 150. Geburtstags von Else Lasker-Schüler, die in der damaligen Industriestadt Elberfeld geboren wurde und zeitlebens selbst als Dichterin und dadaistische Selbstdarstellerin die Menschen verwirrte.
Treten wir also ein in den kreisrunden surrealen Salon aus Sand und schwarzen Stiefeln von Kirsten Dephoff. Er lag mitten in den Wuppertaler Riedelhallen, obwohl er der Höllenschlund in der Nähe Jerusalems sein sollte. Eigentlich wird bei Riedel Kommunikationstechnik gebaut und auch das passt irgendwie ins Lasker-Schüler-Konzept, dass eigentlich nichts anderes ist als eine verbale Auseinandersetzung zwischen dem in Gut und Böse gespaltenen Faust von Goethe. Acht Protagonisten – „kein Gretchen“ – hetzten durch sechs Akte, flankiert von Monitoren, die den Zuschauern im Rund Assoziatives, alternative Szenen und live eigespielte Nahaufnahmen boten, wenn die den Blick überhaupt von den Irren da im Sand lassen konnten. Ich jedenfalls hatte Mühe.
Die zarte Else (Julia Wolf) selbst kreiste derweil um den Schlund, sprach hier und da und beobachtete und erklärte den Ansatz dieser skurrilen Welt, denn nur ihr „Vers war keine Illusion“ und im ersten Akt ging es ziemlich chorisch durch den Text, während an den Bildschirmen hebräische Zeichen wanderten. Inszeniert hatte diese Bilderflut die israelische Regisseurin Dedi Baron, die für das aberwitzige Höllenspiel der Lasker-Schüler diese wunderbare Bühnenversion arrangierte. Die Tänzerin Léonor Clary schien darin die freie Radikale zu sein, die als Frau Marthe Schwerdtlein die Dramaturgie durchbrechen konnte und sollte. Kopfüber steckte sie da im Sand: es brennt die Welten-Illusion und so liefert Mephisto Nazigrößen Brennstoff für die Weltherrschaft gegen ein „Städtchen an der Eifel“, Studenten aus Jerusalem zelebrierten einen Break und die Absage an rechten Hegemoniewahn.
Im dritten Akt wühlten alle im Pelzmantel durch den Sand nach Totenschädeln. Mit Fatsuits und Papierkronen fielen sie dann übereinander her, Spielzeugpanzer standen herum, wurden per Videokamera präsent, die zeitgenössische Parabel über Plastikmüll im Meer musste in den Monitoren weichen. Dann rauschten schwarze Tutus von der Decke für eine Choreografie nebst Daumen lutschen. Dedi Barons Bilderschlacht mit wenigen Texten ließ nicht nach, der vierte Akt fand nur im öffentlich-rechtlichen Fernsehen statt. Faust oder Mephisto (Thomas Braus) las ihn vom Teleprompter. Der fünfte Akt gab allem dann irgendwie Sinn. „Ich rate jeder der Gestalten im Publikum / Versuch den königlichen Schnitt an dir. / Er führt zur klaren reinen Fuge.“ Jeder sollte die Vielschichtigkeit seiner Persönlichkeit akzeptieren und daran arbeiten. Die wieder zusammengefügte Dichterin starb am Schluss freudig: „Ihr Gott ist da.“
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