Zwei Königskinder heiraten am Ende, trotzdem ist rund um „Leonce und Lena“ schon bei Georg Büchner keinesfalls alles brav in Ordnung. Seine Anarchie und Weltdistanz sind selbst für komödiantische Verhältnisse erstaunlich und bis heute frisch. Dass für die Version von Bamboo in Wuppertals Färberei gerade dieses Werk für Disziplin und feste Formen stand, mag paradox sein – doch diese Gruppe ist auch keine alltägliche.
Bamboo, Kooperationspartner von KoKoBe, der Kontaktstelle für Menschen mit geistigen Behinderungen, macht inklusives Theater. Geleitet wird die Gruppe von Torsten Krug und Silvia Munzón Lopez. Regisseur Krug ist auch vom Kulturverein Insel bekannt, Schauspielerin Munzón Lopez von den Wuppertaler Bühnen. Bamboo und KoKoBe brachten schon mehrere Stücke hervor, die in der Regel in der Färberei auf die Bühne kommen.
Umgangssprache und Werktreue
Die Arbeit mit einer – zumal klassischen – Textvorlage ist aber neu. Vorgänger wie „Agenten im Zirkus“ bestanden ganz aus freier Improvisation, mit dem Regieteam in einen Rahmen gebracht. „Diesmal wollten die Mitglieder Text auswendig lernen“, betonte Krug vorab als Besonderheit des neuen Stücks. Bei den Proben lasen er und Munzón Lopez demnach Sätze und Passagen vor. Die Truppe, so stellt man sich vor, ließ sich dazu Passendes einfallen.
Improvisiert wird also auch beim Stück nach Büchner viel, dessen etwas abweichender Titel „Leonce sucht Lena“ ist auch diesem Mix geschuldet. Was nun Büchner ist und was spontan erdacht, das mag erstens gar nicht so wichtig sein. Zweitens ist es beim Schauen oft nur zu erahnen – und das beweist das konzentrierte Spiel der Akteur:innen. Klar klingt es bei Umgangssprachlichem an wie „Das geht mir auf den Keks“ oder „die wollen mich veräppeln“. Aber das Spiel bleibt insgesamt dem Gestus des Stücks treu.
Maskenspiel mit Publikum
Was original ist, zeigt nicht zuletzt die Textnähe wie beim bei Büchner so flektierten Wort „Langerweile“. Langweilig jedenfalls ist dem Prinzen Leonce enorm, er räsoniert über die Welt und seinen Überdruss an ihr. Zur vollends romantischen Hingabe scheint er schon bei dem früh verstorbenen Dichter ähnlich untauglich wie die ihm noch unbekannte Prinzessin Lena. Dass beide dennoch laut Elternwillen heiraten sollen, lässt die zwei melancholischen Titelfiguren nur Reißaus nehmen. Doch just auf der Flucht kreuzen sich ihre Wege, sie verlieben sich. Als man die Hochzeit der Flüchtigen schrägerweise in Abwesenheit zu feiern beschließt, tauchen sie vermummt auf – und entpuppen sich zum Schluss als wahre Liebende. Bei Bamboo gelingt der Maskenzug als grotesk-witziges Highlight, zu dem sogar das Publikum eingespannt wird. Schön auch die eingespielten Filmszenen, aufgenommen teils in der fahrenden Schwebebahn.
Die Akteur:innen zeigen auf der Bühne verschiedene Qualitäten – trockener Humor gehört bei einem dazu, Fabulieren bei einer anderen. Das Regieteam stellte nachher heraus: „Jeder von ihnen hat andere Einschränkungen wie auch Begabungen.“ Dem ist auch geschuldet, dass kein kompletter Originaltext zu stemmen war. So gilt hier auch der alte Theater-Satz: „Jeden Abend ist die Aufführung ein bisschen anders.“
Leonce sucht Lena | 30.4. 19.30 Uhr | Färberei, Wuppertal | Info: 0202 643 064
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