ZUR PERSON
Der freie Regisseur Volker Schmalöer studierte Theater- und Medienwissenschaften in Köln und begann seine Laufbahn in Bochum. Von 2004 bis 2010 war er Oberspielleiter am Staatstheater Kassel und inszenierte viele Klassiker.
Das ist schon ein mächtig gespenstischer Ort im Wuppertaler Theater am Engelsgarten. Auf der Bühne ist die Titanic längst untergegangen, nur der zerstörerische Eisberg schwimmt im Hintergrund noch. Auf der spiegelblanken Wasseroberfläche treffen zwei Geister aufeinander, die jeder kennt und die doch in dieser Umgebung nie gesehen: Estragon und Wladimir aus Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Längst haben Sie ihren Jesus verinnerlicht, längst können sie selbst über das Wasser laufen, und doch warten sie für Volker Schmalöer immer noch um ihr Leben, das längst erloschen scheint. Watend wartend auf irgendjemand, auf Godot, aha, ein simpler, aber schöner Bühnenbildeffekt für Becketts Doppeleinakter. Oder schwimmt etwa die Titanic noch wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche? Der Nebel des Untergangs zieht herbei, hüllt alles in weiße Wolken und dann ist das erste Bild auch schon vorbei.
Es bleibt die zeitlose Szenerie (Michael Lindner), mit ein paar Europaletten als Weg, der Beckettsche Baum unsichtbar irgendwo hinter dem Publikum, schlichtweg surreal alles, der Text, und darüber wachen ja wohl die Beckett-Erben mit Argusaugen, wie gewohnt. Estragon (Alexander Peiler) schlurft durch die Pfützen und beginnt seinen Versuch, den viel zu engen Schuh auszuziehen. Doch der Stiefel und sein Socken wehren sich und Estragon kämpft verbissen den einzigen Kampf, den sein Leben wohl noch zu bieten hat. Im Hintergrund taucht Wladimir (Stefan Walz) auf. Er vermeidet das Wasser, er geht drum herum, nutzt die Europaletten als Stege. Sie treffen sich am Morgen wieder, die Dialoge setzen ein, das Prinzip Godot wird warm unter der wärmer werdenden Sonne. Das Prinzip Godot ist nicht das Warten, sondern das Vermessen der eigenen Lebenszeit, der vielleicht überflüssigen Restzeit der beiden, „die alle Rechte verschleudert“ zu haben glauben.
ZUR PERSON
Der freie Regisseur Volker Schmalöer studierte Theater- und Medienwissenschaften in Köln und begann seine Laufbahn in Bochum. Von 2004 bis 2010 war er Oberspielleiter am Staatstheater Kassel und inszenierte viele Klassiker.
Die Regie von Volker Schmalöer konzentriert sich auf die sprechenden Personen, die Bewegungsabläufe scheinen manchmal nur der visuellen Veränderung zu dienen nicht einer theatralischen Choreografie, selten kommt es zum Kontakt der beiden, wenn dann ist er eher herzlich, denn sie hängen aneinander, zusammengelötet durch ihre Leben, verschweißt durch die letzte Hoffnung auf Besserung. Und in dieser bleiernen Stimmung, da sind zwei Schritte oder der Griff ans lädierte Bein schon unerhörte Neuerungen. Schmalöer zelebriert die gedehnte Zeit genüsslich, ohne dass die Spannung für die Zuschauer jemals abfällt. Selbst der große Eisberg auf der Bühne zeigt nur Spuren von eingefrorener Bewegung, manchmal spiegelt er nur das Wasser und hinter ihm liegt irgendwo die Welt, in die Estragon und Wladimir nicht zurückkehren wollen. Eine Leuchtreklametafel für GODOT glimmert auch nur noch so vor sich hin, war sie etwa auch auf dem Ozeanriesen? Egal, die Wartenden wollen nirgendwohin. Lieber fressen sie den ganzen Tag Mohrrüben und reden sich das Leben fad. Sie gehen schon 50 Jahre lang denselben Weg.
Aber aus einer dieser Welten erhalten sie Besuch. Das Hoffen wird vom Irrwitz durchbrochen. Der Großgrundbesitzer Pozzo (Klaus Lehmann) kommt mit seinem Diener Lucky (Lukas Mundas) vorbei. Und Pozzo wundert sich, warum jemand in einer so „gottverlassenen Gegend“ auf ihn wartet. Das Zitat scheint die Schlüssel-Metapher zu sein. Denn auch Gott mischt sich in diese unendliche Leere nicht mehr ein oder er hat es nie. Da kann es körperliche Standbild-Kruzifix-Zitate geben, wie es will. Mit dieser christlichen Straße zur behaupteten Erlösung dürfte Beckett beim Schreiben abgeschlossen haben. Das Stück entstand zwischen 1948 und 1949 und wurde erst 1953 in Paris uraufgeführt, die metaphysischen Kapriolen des Iren waren damals noch ihrer Zeit etwas voraus, von Weltruhm waren beide, Stück und Dichter, noch weit entfernt. Die Epoche damals war eben nicht besser als die andere.
Das Verhältnis zwischen Pozzo und Lucky ist eine Art „let´s play master and servant“, mit dem Unterton, dass es eine Verabredung dazu wohl nie gegeben hat. Pozzo durchbricht die Stille, doch bringt er damit niemanden näher an Godot heran. Pan schläft, und wenn irgendwo einer anfängt zu weinen, hört irgendwo einer auf. Ja, Pozzo kennt die Menschen und sein devotes Lucky-Pferd mit dem Hang zum wissenschaftlichen fabulieren. Blöd nur, dass Pozzo nach der Pause blind und hilflos ist und sich die Machtverhältnisse umgekehrt haben – warum, sagt einem wieder niemand. Dennoch kündigt ein kleiner Junge Godot für den nächsten Tag an. Na klar. Die Regie sagt natürlich auch nichts, denn sie hat mit dieser Inszenierung wunderbar bewiesen, dass es für Becketts verordneter Absurdität besser ist, wirklich alles in Frage zu stellen, Bühne, Text, Protagonisten – und natürlich Gott. Und morgen hängen wir uns auf. Genau. Das waren zeitlose zwei Stunden.
„Warten auf Godot“ | R: Volker Schmalöer | 8., 9., 10., 16., 17., 24.6. 19.30 Uhr | Theater am Engelsgarten | 0202 563 76 66
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