Das Theaterstück „IchundIch“ gehört nach Wuppertal – ganz besonders im Jubiläumsjahr des 150. Geburtstages von Else Lasker-Schüler. Die israelische Regisseurin Dedi Baron und ein installatives Raumkonzept machen die Wuppertaler Riedel-Hallen zum Erlebnisort für die theatralische Tragödie. Trailer sprach mit ihr und dem Wuppertaler Intendanten Thomas Braus, der das parallele Studentenprojekt leitet.
engels: Frau Baron und Herr Braus, ist „IchundIch“ schon Sampling deutscher Literatur oder mehr eine Adaption von Goethes Faust?
Dedi Baron: Es ist ein Dialog zwischen Else Lasker-Schüler und Goethes Faust. Lasker-Schüler beschäftigte die Frage, ob Goethe das Stück wohl auch nach der Nazi-Diktatur geschrieben hätte und zeigt so ihre Sehnsucht nach einer besseren Welt, denn sie hat selber sehr gelitten und die Vision gehabt.
Thomas Braus: Es ist auf keinen Fall eine Adaption. Lasker-Schüler schreibt den Faust nicht neu, sondern sie mischt beide Figuren, die zu ihrer Lebensgeschichte dazu gehören. So arbeitet sie bestimmte Themen ab. Auch indem sie im vierten Akt die ganz kühne Behauptung aufstellt, Faust und Mephisto seien eigentlich eine Person. Es ist also ein eigenes Stück, indem die Figuren vorkommen, auch einen Mephisto, der sich darüber ärgert, dass die Nazis böser sind als er.
Inszeniert man die krude Geschichte gegen Nazis auch für Nazis, obwohl die das doch sowieso nicht verstehen?
DB: Sehr gerne bekäme ich auch Nazis dazu, in die Inszenierung zu gehen. Weil die meisten links stehenden Zuschauer sind ja schon überzeugt. Wenn rechtsgesinnte Leute kämen, würde es vielleicht eine echte Diskussion werden. Die Fragen richten sich ja an alle. Wir können nicht über Toleranz und gegen Faschismus arbeiten und dann faschistisch agieren und sagen, wir haben immer Recht und die immer Unrecht. Wir wollen in erster Linie rituelle Momente. Was man über den Verstand aufgenommen hat, vergisst man auch schnell. Mir geht es um etwas, das unter die Haut geht.
Wie wichtig ist der Spielort Jerusalem für die Tragödie heute noch?
DB: Sehr, sehr wichtig. Jerusalem ist ein Zentrum für genau die Konflikte, Jerusalem nicht als heilige Stadt, sondern die Stadt in ihren Widersprüchen: Es kann eine Hölle sein, es kann aber auch gut sein. Das beschäftigt uns am Ende der Inszenierung. Gerade sehe ich Jerusalem sehr dunkel – „Wenn man die Hoffnung verliert“, sagt Else Lasker-Schüler, „mach weiter“.
Hat das Fragment einen zeitgenössischen Kern jenseits vom Gut gegen Böse?
DB: Wir versetzen es ins Heute. Was ist überhaupt gut, was ist böse. Die Fragen stellen wir uns auch als Israelis, als Juden. Wir spielen gerade die Rolle von den Schlechten, finde ich. Deshalb sind da auch zeitgenössische Texte aus israelischen Zeitungen. Aber nur wenn das Gute und Schlechte zusammenkommt, kann man einen neuen Anfang machen.
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das ist ja Cross-over wie im Internet… braucht es deshalb Video, Musik und die Form von Installation?
DB: Else Lasker-Schüler hat das so geschrieben. Auch das mit dem Film. Sie lässt Leute von Hollywood auftreten, im Subtext ist das ihr Traum und wir versuchen ihren Traum, ihre Vision zu erfüllen. Sie schreibt das im Text ganz konkret: Ist durch einen Film darzustellen.
Wie spaltet man Tugend von Sünden?
TB: Sie beschreibt das im Stück. Die Spaltung meint auch die Existenz beider Figuren. Es gibt eine Version, da waren Faust und Mephisto nicht gespalten. Irgendwann kam eine Trennung. Es geht nicht nur um das Gute und das Böse, sondern um alle möglichen Formen der Abspaltung, die in einer menschlichen Figur entstehen können. Das lösen wir in der Inszenierung mit vier Mephistopheles und vier Doktoren Faust.
Worum geht es im Studenten-Projekt?
DB: Wir wollten einer jüngeren Generation die Möglichkeit bieten. Beteiligt sind meine Regie-Studierenden der Universität Tel Aviv und von der UDK in Berlin der Studiengang Szenisches Schreiben von John von Düffel. Die Studierenden lesen das Stück von Lasker-Schüler und schreiben, was sie heute dazu denken. Was hätten sie sie über die Zukunft gefragt. Die deutschen haben Texte nach Israel geschickt, und die erarbeiten ihre Vision. So erreichen wir auch, dass der Text kein Museum wird.
TB: Die waren auch alle ganz gespannt auf das Projekt. Barbara Noth, die Dramaturgin und ich sind nach Berlin gefahren und haben es vorgestellt. Ich war dann auch in Tel Aviv und habe dort das Projekt vorgestellt und erzählt, dass wir „IchundIch“ in einer Halle als Installation in einer stark gekürzten Version machen. Die israelischen und die deutschen Studenten haben sich alle nochmal den Faust durchgelesen. Wir haben dann gesagt, nehmt das Material und schaut, was ihr daraus machen könnt. Die Studierenden aus Berlin und Tel Aviv kommen nun am 1. Juli zusammen hierher und arbeiten das, was sie jetzt schon haben, hier fertig. Es wird dann eine Performance geben und sie bleiben bis zur letzten Vorstellung da. Die deutschen haben die Texte geschrieben, aber die israelischen Studenten spielen.
„IchundIch – Eine theatralische Tragödie“ | R:Dedi Baron | 6. (P), 7., 8., 9., 10., 11., 12., 13.7. je 19 Uhr | Riedel-Hallen Wuppertal | 0202 563 76 66
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Überleben, um zu sterben
Bund will bei der Freien Szene kürzen – Theater in NRW 09/24
Auf die Melancholie die Liebe
Theatergruppe Bamboo inszeniert frei nach Georg Büchner – Bühne 04/24
And the winner is …
Auswahl der Mülheimer Theatertage – Theater in NRW 04/23
„Fabulieren, was möglich sein könnte“
Anne Mahlow über das Dortmunder Favoriten Festival – Premiere 08/22
Darlehen als Psychospiel
Schauspiel Remscheid bringt Stück des Grönholm-Autors
Von wegen „unaufführbar“
Das avantgardistische Fragment „IchundIch“ als Gesamtkunstwerk – Auftritt 08/19
Die Brandschutz-Lobby
Eine Sprinkleranlage flutet das Duisburger Theater – Theater in NRW 05/19
Die Transparenz der Communities
Offener Brief zur Kölner Intendanzsuche – Theater in NRW 04/19
Evolution durch Overkill
Nils Voges und sputnic inszenieren „Metropolis“ in Essen – Auftritt 04/18
„Der Kasper hat sich von keiner Autorität unterkriegen lassen“
Fidena-Chefin Annette Dabs zum Jubiläum unter dem Motto „resist“ – Festival 04/18
Gladiatoren, die in der Arena weinen
„Konsens“ im Düsseldorfer Central am Bahnhof – Auftritt 02/18
Und Jesus kann warten
Volker Schmalöer inszeniert „Warten auf Godot“ – Auftritt 06/17
„Es geht auch darum, wer der Stärkere ist“
Regisseur Peter Wallgram über „Monte Rosa“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 11/24
Schäferwagen und Hexenhaus
„Hänsel und Gretel“ am Opernhaus Wuppertal – Auftritt 11/24
Ohne Firlefanz
Premiere von „Salome“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 10/24
„Im Stück steckt ganz viel Politik drin“
Regisseurin Barbara Büchmann über „Der einzige Mann am Himmel bin ich“ in Wuppertal – Premiere 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
„Macht und Machtspiele“
Intendant Thomas Braus über die neue Spielzeit am Wuppertaler Schauspiel – Premiere 09/24
Zahlreiche Identitäten
6. Hundertpro Festival in Mülheim a.d. Ruhr – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Weltstars in Wuppertal
Größen der Rock- und Pop-Szene gastieren im LCB – Porträt 07/24
Unterhaltsame Kurzweil
„Die lustigen Weiber von Windsor“ am Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 07/24
„Schauspielerfahrung schult perspektivisches Denken“
Schauspieler Thomas Ritzinger hat mit „Die letzte Nachtschicht“ einen Roman geschrieben – Interview 07/24
Bewegte Geschichte
Soziokulturelles Zentrum Die Börse in Wuppertal – Porträt 06/24
„Wir sind eher im sozialkritischen Drama zuhause“
Regisseur Peter Wallgram über „Woyzeck“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 06/24