engels: Herr Henn, was ist für Sie eigentlich ein gerechtes Steuersystem?
Markus Henn: Steuern sollten in dem Sinne gerecht sein, als dass sie Vermögen zwischen den Akteuren unserer Marktwirtschaft umverteilen. Steuern sollten Ungleichheiten abbauen und helfen, den Staat zu finanzieren. Sie sollten fair sein, indem sie Menschen nach ihrer Leistungsfähigkeit belasten. Alle Arten von Einkommen sollten besteuert werden. Lücken, wie wir sie beispielsweise bei der Kapitalbesteuerung haben, sind inakzeptabel. Das gilt auch für Unternehmenssteuern. Der Bereich, in dem wir besonders stark arbeiten, ist die Steuerflucht. Auch sie sollte bekämpft werden, weil sich die einen ihrer Pflicht entziehen und die anderen dafür aufkommen müssen.
Warum muss man das Vermögen umverteilen? Warum kann nicht jemand, der viel verdient, auch viel behalten?
Grundsätzlich baut die Möglichkeit, Geld zu verdienen, ja darauf auf, dass wir einen funktionierenden Staat haben. Ein Einkommen kann man nur in diesem Rahmen beziehen. Von vornherein ist es die Verpflichtung aller, zu diesem Rahmen beizutragen. Außerdem muss gesichert sein, dass alle Menschen ausreichend Mittel zur Verfügung haben und jeder menschenwürdig leben kann.
Der Reiche hat also vorher so vom Staat profitiert, dass er überhaupt reich werden konnte und soll dementsprechend etwas zurückgeben?
Auf jeden Fall. Bei Unternehmen ist das besonders offensichtlich: Sie profitieren von der Infrastruktur oder von der staatlich finanzierten Ausbildung. Letztlich leben Unternehmen auch von der staatlichen Rechtsordnung, vom gesicherten Frieden und der materiellen Sicherheit der Bevölkerung. Forschungen haben außerdem gezeigt, dass es steuerlich angeglichenen Gesellschaften insgesamt besser geht.
Ist ärmeren Menschen in Deutschland allein dadurch geholfen, dass man den Steuersatz der Reichen anhebt, oder muss man für Geringverdiener auch noch die Steuern senken?
Ich persönlich würde sagen, dass man bei niedrigen Vermögen noch mehr entlasten könnte. Wenn man oben mehr abgreift, kann man unten einen gewissen Betrag zur Steuerfreiheit einsetzen. Das hat aber natürlich seine Grenzen.
Sie kritisieren den Zwang, im Kapitalismus immer nach Gewinn streben zu müssen. Kann man das überhaupt ändern?
Im Kapitalismus wird es diese Tendenz immer geben. Es ist aber auch in diesem System möglich, Teile der Gesellschaft oder eines Marktes davon abzutrennen – zum Beispiel bei Produkten aus dem ökologischen Bereich. Oder mit einer guten Miet-, Banken-, oder Arbeitsmarktregulierung. Dadurch kann man dem Markt den Boden entziehen und das Gewinnstreben zurückdrängen. Parallel sollte sich die Kultur ändern, dass der Einzelne oder ein Unternehmen nur auf den Gewinn schauen müssen.
Wie funktioniert das Netzwerk Steuergerechtigkeit? Wer macht mit?
Das internationale Netzwerk wurde 2003 beim europäischen Sozialforum gegründet. Das heutige deutsche Netzwerk ist ein eigenständiger Verbund von deutschen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Steuerexperten. Mitglieder sind unter anderem Attac, die Gewerkschaft ver.di oder Misereor. Wir arbeiten mit Pressekontakten, Veranstaltungen oder Offenen Briefen, informieren mithilfe unseres Blogs oder führen Lobbygespräche mit Politikern.
Haben Sie das Gefühl, dass sich durch die Arbeit des Netzwerkes Dinge ändern?
Insgesamt haben wir mit den vielen anderen Organisationen, die sich mit dem Thema Steuern befassen, einige Erfolge zu feiern gehabt. Ein Beispiel ist das Deutsch-Schweizer Steuerabkommen, das Hinterzieher nachträglich sehr günstig legalisiert hätte. Vor zwei Jahren haben wir intensiv daran mitgearbeitet, dass es zu Fall gebracht wurde. Unsere Vorschläge wurden auch in Positionspapieren von Parteien eingebracht. Wichtiger ist aber, dass wir immer ansprechbar sind – zum Beispiel als Experten in Anhörungen im Bundestag für Politiker, aber auch für Privatpersonen.
Das EU-Parlament will offenlegen, wer von Firmen oder Stiftungen profitiert. Die deutsche Regierung sträubt sich noch dagegen. In einem Offenen Brief haben Sie zuletzt Finanzminister Wolfgang Schäuble dafür kritisiert.
Wir denken, dass es schon ein Fortschritt wäre, wenn wir in Europa ein frei zugängliches, zentrales Register hätten. Heute muss die Polizei die Kollegen im Ausland nach Auskunft fragen. Das kostet Zeit. Zweitens schaffen es die Behörden nicht – so gut sie auch sein mögen – alles zu ermitteln. Wir sehen, dass gerade die Medien, NGOs und einzelne Whistleblower eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, Steuerhinterziehungen und ähnliche Delikte ans Licht zu bringen. Mit einem Register könnten Geldströme einfacher dargestellt werden. Die Behörden hätten leichteres Spiel. Es gäbe auch einen Abschreckungseffekt: Menschen, die ihr Geld verstecken wollen, müssten einen höheren Aufwand betreiben. Dafür gibt es übrigens schon ein Vorbild. Die Extractive Industries Transparency Initiative (EITI). Die EITI versucht, alle Finanzströme im Rohstoffbereich zwischen Unternehmen und Staaten offenzulegen.
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