Seit vor ein paar Monaten die Gruppe Critical Classics an die Öffentlichkeit trat, wird hinter den Opernkulissen ein großer Diskurs geführt. Denn das Team, dem Wuppertals Ex-Opernintendant Berthold Schneider angehört, hat es sich zur Aufgabe gemacht, in die Libretti tradierter Opern wie solchen von Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini einzugreifen, um rassistische Klischees der damaligen Zeit oder arrogante Bemerkungen über Frauen seitens der Männer abzuändern. Derzeit wird an einer neuen Textfassung von Wolfgang Amadeus Mozarts „Zauberflöte“ gearbeitet.
Nun, nach der Premiere von Georg Friedrich Händels Oper „Alcina“ im Wuppertaler Opernhaus, kommt eine weitere Art von Eingriff hinzu. Denn Regisseurin Julia Burbach hat das Opus um rund eine Stunde gekürzt und aus dem Dreiakter einen Zweiteiler gemacht. Etliche Seiten- bzw. Nebenstränge fehlen oder spielen nur eine untergeordnete Rolle. Dadurch wird die Titelfigur in einem ganz neuen Blickwinkel dargestellt. Dessen ungeachtet wird die gestraffte Version stringent und spannend vermittelt. Aus Burbachs Sicht ist Alcina eine ganz normale Frau, die aus Liebeskummer auf eine imaginäre Insel flüchtet, wo sie ganz nach ihrem Belieben über Menschen schalten und walten kann. Nach etlichen erfolglosen Versuchen, Ruggiero zurückzugewinnen, und dem Verlust aller ihrer Zauberkräfte fügt sie sich in ihr Schicksal.
Passend zu dieser Story hat Cécile Trémolières einen sachlichen Hauseingang zu Beginn und ganz zum Schluss, einen flexiblen Salon und einen hübschen Garten kreiert. Auch für die schillernden Kostüme in Stilen von der Zeit des Barock bis heute zeichnet sie verantwortlich. Burbach gelingt es mit ihrer erstklassigen Personenführung, dass selbst bei langen Musikpassagen Aktion groß geschrieben wird. Mit dazu tragen Einschübe einer gesunden Mischung aus traditionellem und aktuellem Tanz (Choreografie: Camreon McMillan, Ben Wichert) bei.
Darstellerisch und gesanglich präsentieren sich die Solisten bestens disponiert. Einen glänzenden Einstand feiert Margaux de Valensart, seit Januar festes Mitglied im Wuppertaler Ensemble. Ihr kräftiger und in allen Registern ausgewogener, in der Höhe ein wenig fester Sopran passt zur dominanten Alcina. Ruggiero ist Randall Scott, der nach anfangs kleinen Schwächen seinen lyrischen, tragfähigen Countertenor wandlungsfähig erstrahlen lässt. Subin Park vom Opernstudio NRW als Morgana besticht mit einem glasklaren Koloratursopran unverkrampft in den höchsten Tongefilden. Gekonnt schlüpft Edith Grossmann mit beweglichem Mezzosopran in die Rolle Bradamantes. Die kleinen Auftritte von Bassbariton Erik Roussi als Melisso und Tenor Sander de Jong (Oronte) überzeugen ebenfalls.
Auch der Chor der Wuppertaler Bühnen (Einstudierung: Ulrich Zippelius) glänzt bei seinen beiden kurzen Auftritten am Anfang und Schluss mit aussagekräftigen, harmonischen Gesängen. Ein ausgezeichnetes Debüt hat Dominic Limburg. Unter seinem umsichtigen und stets verlässlichen Dirigat überzeugt das Sinfonieorchester Wuppertal mit einem nuanciert-ausgewogenen Spiel. Das Premierenpublikum feiert die Produktion mit lang anhaltenden stehenden Ovationen.
Alcina | 1.4., 5.5., 14.6. | Opernhaus Wuppertal | 0202 563 76 66
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