Ich kann mich noch an die Adresse erinnern – Mühlenstraße 7. Ich war sechs Jahre alt. Unser Haus war gelb, sagte mein Bruder, ich hatte es rosa in Erinnerung. Ich saß in unserem Hof auf dem Boden an einen Zaun gelehnt und kritzelte mit einem Stöckchen irgendwas in den Sand. Ich wartete eigentlich auf Horst, unseren Nachbarjungen. Der war ein Stiefsohn und seine Mutter würde ihn schlagen, wurde so gemunkelt. Meine Mutter nähte ihm den einen und anderen Knopf an die Jacke und machte ihm hin und wieder auch ein Butterbrot. Horst kam an diesem Morgen nicht.
Ich starrte an die gegenüberliegende schwarze Brandmauer – deren Schwärze durch das Sonnenlicht fleckig und dunkelbraun aussah. Ein Starenkasten hing dort, die Stare sind dieses Jahr nicht gekommen und ein Starenkasten ohne Stare ist trostlos. Die Sicherungskästen mit den weißen Porzellansicherungen an den Elektroleitungen konnten den trostlosen Anblick auch nicht ändern. Ich schaute noch oben – aus der Enge des Hofes hinaus. Strahlend blauer Himmel. Der Duft des blühenden Flieders, links im Hof, lud ein, ihn eingehend zu betrachten, als wollten die Augen ihn auch schnuppern. Rechts war die verheißungsvolle Küchentür, hinter der meine Mutter wahrscheinlich im Kochtopf rührte – wahrscheinlich Eintopf – wie so oft im Jahre 1944. Ich sollte mal nach einem Butterbrot schauen. Wir sagten immer Butter, obwohl es nur Margarine war. Fliederbaum und Butterbrot – also Margarinebrot – ließen meine Stimmung besser werden.
Plötzlich hörte ich ein Brummen näher kommen. Ich schaute nach oben und sah lauter kleine Flugzeuge – wie in den Himmel gestickt. Eine hellblaue Tischdecke mit kleinen schwarzen Flugzeugen. Sie hatten ihre Bomben schon wo anders abgeworfen.
Ich war im August 1938 in Wollin geboren worden. Da war noch Frieden. Was ist Frieden, wollte ich wissen. Da gab es Bananen und Schokolade und überhaupt. Wie schmecken Bananen? Wollte ich wissen. Mein Bruder sagte, so ungefähr wie Birnen. Wie Birnen schmeckten, wusste ich ja, weil wir im Garten einen Birnbaum hatten. Einen ganz großen Baum mit ganz kleinen Birnen. Ich sollte später erfahren, dass uns außer Bananen und Schokolade noch vieles trennte vom Frieden.
71 Jahre später - ich lebe inzwischen 42 Jahre in Wuppertal – erinnere ich mich an fast 20 Lebensjahre in Hamburg. Nachdem ich 18 war und damit damals in der DDR auch volljährig, zog ich 1956 - es gab noch keine Mauer - zu meiner ältesten Schwester in die Hansestadt und entkam der Enge Ostberlins - sowohl räumlich als auch politisch.Als ich 1975 aus beruflichen Gründen mit meinem Mann nach Wuppertal zog, lebten wir einen ganz normalen Familienalltag. Kindergarten, Schule, Job, Haushalt, Freunde.
Also genau das, was die derzeitigen Flüchtlinge und Migranten aufgeben mussten. Wenn ich ihre Bilder sehe, gehen mir vor allem die fragenden und verunsicherten Kinderaugen, die sich so sehr nach Geborgenheit sehnen, zu Herzen. Ich weiß, was sie fühlen, weil ich das vor mehr als siebzig Jahren auch gefühlt habe. Möge es ihnen mit ihren Familien in der neuen Umgebung auch gelingen, ein neues Leben aufzubauen.
Zur Person:
Doris Stückrath flüchtete gegen Ende des Zweiten Weltkriegs vor der Roten Armee aus Pommern nach Ostberlin. Von dort reiste sie 1956 nach Hamburg aus. 1975 zog sie schließlich mit ihrer Familie nach Wuppertal. Seit einigen Jahren hat sie das Malen für sich entdeckt und organisiert eigene Ausstellungen.
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