Wenn ich an meine Kindheit im Dorf Kamber in der Türkei denke, macht mich das traurig. Es gab keinen Strom, Wasser nur am Brunnen. Es war sehr ärmlich. Ich war drei Jahre alt, als mein Vater uns nach Paris nachholte. Dort bekam ich meine ersten Schuhe, aß meine erste Banane, die ich zuerst mit Schale essen wollte, sah das erste Mal das Meer. Die Militär-Junta war nicht das einzige Problem in der Türkei. Zudem hatte er keine gute Kindheit, er wuchs ohne Mutter auf. Er wollte die Vergangenheit hinter sich lassen.
Ich bin in Paris und im Vorort Bonlieu aufgewachsen. Mein Vater hat dreißig Jahre bei Citroën gearbeitet, meine Mutter war Hausfrau. Mein Bruder kam hier zur Welt. Meine Mutter hat nie die Tür abgeschlossen, wir hatten immer viel Besuch. Ich kann nicht sagen, woher unsere Freunde kamen, das war nicht wichtig. Bei meiner Freundin aus der Kindergartenzeit dachte ich, sie käme aus Afrika, als Teenager erfuhr ich, sie stammt aus Guadeloupe. Türkisch habe ich erst in Deutschland gelernt, die Schulzeit ging bis sechs Uhr abends, da hörte man den ganzen Tag nur Französisch.
Als Geflüchteter oder Gastarbeiter wurde man anfangs schlecht behandelt, man kam direkt ins Gefängnis. Und erst nach dem Papierprozedere konnte man raus und sich eine Wohnung suchen. Aber in Deutschland war es noch schlimmer, mein Vater war zwei Monate dort, bevor er nach Frankreich weiterzog. Die ärztliche Untersuchung war sehr demütigend, man fühlte sich wie auf dem Sklavenmarkt. Er wurde grob und unfreundlich behandelt. In Frankreich waren sie zumindest den Türken gegenüber sehr nett und hilfsbereit. Darum wollte ich eigentlich nie nach Deutschland. Aber mit 15 Jahren habe ich meinen Mann kennengelernt, unsere Eltern kannten sich noch aus der Türkei und sie kamen zu Besuch. Sie kamen über Österreich nach Deutschland – die zwei Jahre in Österreich waren für sie sehr schlimm. Für seine Familie war Deutschland das freundlichere Land. Geheiratet habe ich ihn mit 19 Jahren, nachdem ich die Ausbildung in der Ausländerbehörde beendet hatte. Ich zog zu ihm nach Wuppertal und schon bald kam mein ältester Sohn zur Welt.
Ich habe vier Kinder, aber sobald es ging, habe ich immer gearbeitet, anfangs Minijobs, später Teilzeit. Meine Ausbildung konnte ich hier nicht zum Beruf machen, dafür musste man perfekt Deutsch schreiben und lesen können. Später haben wir uns selbstständig gemacht mit einem Stehcafé in der Holsteiner Straße. Das lief 10 Jahre sehr gut, jeder kannte uns, es war sehr familiär. Es hat fünf Jahre gedauert, bis ich anfing, mich hier wohlzufühlen, Freunde gefunden hatte. Unsere Nachbarin hatte Angst vor uns. Sie hat nicht gegrüßt und schlug Einladungen, uns zu besuchen, anfangs aus. Nachdem sie dann doch mal bei uns war, wurden wir gute Freunde, sie hat oft auf unsere Kinder aufgepasst.
Ich war schon immer politisch aktiv. Man kann die Augen nicht zu machen. Ich kämpfe für Frieden und Freiheit. Alle Menschen zu akzeptieren, das ist mir wichtig. Auch bei Freundschaften: Sie müssen ähnlich denken. Das war auch einer der Gründe, warum ich mich in meinen Mann verliebt habe. Ein Gedicht von Nazim Hikmet spiegelt meine Weltvorstellung gut wieder: „Leben einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht.“ Die Türkei ist meine Kindheit, Frankreich mein Heimatland und in Wuppertal bin ich zu Hause.
Serife Gerdanoglu ist 52 Jahre alt und zog 1985 nach der Heirat nach Wuppertal. Heute hat sie nur noch die deutsche Staatsbürgerschaft und lebt in Oberbarmen. Sie will wieder nach Elberfeld ziehen, wo sie plant, ein kulturelles Café aufzumachen.
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