Maria steht schon im Regen, wenn die Zuschauerreihen im Theater am Engelsgarten noch gar nicht gefüllt sind. Die eigentliche Survivor-Figur (daher wohl mit Regenschirm) in Albert Camus´ schwarzem Familiendrama-Gleichnis um Aufrichtigkeit und der Suche nach Glück bleibt in der Inszenierung von Martin Kindervater auch eher ein immanenter Schemen, gespielt von allen Protagonisten. So richtig etwas zu sagen, hat sie auch nicht. Nur dunkle Ahnungen hat sie in einem Land, wo niemand lacht. Jan, ihr Mann, kehrt nach Jahrzehnten genau dorthin zurück, um seinen erarbeiteten Wohlstand mit der einst zurückgelassenen Mutter und der Schwester zu teilen.
Kindervater verbaut in „Das Missverständnis“ Assoziationen zu seiner Wuppertaler Inszenierung von „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams im Bühnenbild (beide Male großartig: Anne Manss) ein. Der Flamingo, das Bild im Hintergrund und auch das drehbare Bauwerk seines Elternhauses lassen an das düsterpoppige Familiengemälde der vergangenen Spielzeit und an Tom, der ebenfalls Mutter und Schwester verlässt, denken. Doch Jan (Konstantin Rickert) ist nicht Tom und Martha beileibe nicht Laura. Und so ist das eine sehr schöne optische Inszenierungsidee für Wuppertal, zumindest für die, die auch den Williams am Engelsgarten gesehen haben, aber auch als Gedankenmodell für Situationen, in denen die vermeintlich Starken die unschuldig Schwachen verlassen haben.
In der kleinen Pension im Nirgendwo hat Martha die Hosen an. Sie tötet zusammen mit ihrer Mutter reiche, alleinstehende Gäste, „wenn es die Mühe lohnt“. Ihre Mutter (Julia Wolff) hat nach zehn Morden alle Energie verloren, „das Töten macht schrecklich müde“, sagt sie. Doch die längst zynische Martha will nur noch aus der Armseligkeit der schäbigen Herberge ans Meer und in ein Land, wo die Sonne ihre düstere Seele tötet. Neben aller unglaubwürdigen Dramaturgie-Konstrukte des Popstar-Existenzialisten und Nobelpreisträgers Camus im Stück – eigentlich hat es erst im Internet-Zeitalter voller Pseudonyme und Avatare seine Bühnenberechtigung erhalten – macht allein schon Lena Vogt als Martha den Abend zum Vergnügen am (immer vorhersehbaren) Untergang. Kindervater lässt diese Figur auch zelebrieren, wenn sie durch die Küchenklappe abgeht oder dauerpräsent Mutter und Gast manipuliert, dabei bestimmt schon mal das 11. Polaroid als Trophäe aufhängt und in der eiskalten Sprache des Psychopathen über Rechte und Pflichten des Gastes schwadroniert.
Kindervater erzählt diese bleierne Atmosphäre des Untergangs bewusst zäh und langsam mit einer zeitlosen Soundspur. So richtig nach Hause kommt Jan nie. „Mir kommt hier alles seltsam vor“, sagt er schon am Anfang. Nach einer Diashow alter Familienbilder in seinem Zimmer will er zurück zu Maria, doch es ist zu spät. DieK.-o.-Tropfen sind auf dem Dach serviert worden, seine Mutter kommt mit ihren Skrupeln zu spät. Wie immer schlurft der wortlose alte Knecht durch die Inszenierung, undurchsichtig, aber wohl Tom Waits mächtig. Die Leiche steckt im Regenfass, Jans Reisepass belegt das Grauen, die Mutter kollabiert und erschießt sich, Martha begegnet Maria (diesmal Konstantin Rickert, am Schluss haben alle das Maria-Kostüm an): „Beten Sie zu Gott, dass er sie werden lässt zu Stein“, sagt sie und erschießt sich auch. Maria kriegt wieder von Gott (Hans Richter als Knecht) kein Mitleid. Charles Trenet singt: La mer. Existenzialismus!
„Das Missverständnis“ | R: Martin Kindervater | So 3.11. 18 Uhr, Sa 23.11. 19.30 Uhr | Theater am Engelsgarten | 0202 563 76 66
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