engels: Frau Frauenrath, wie postdramatisch muss denn eine Inszenierung von „norway.today“ von Igor Bauersima fast ein Vierteljahrhundert nach der Uraufführung werden?
Hannah Frauenrath: Postdramatisch muss das für mich nicht sein, aber gut 20 Jahre später muss man tatsächlich an den Text ran und ihn modernisieren. Gerade, weil heute Themen wie die sozialen Medien im Internet eine größere Rolle spielen und sich dort ja vieles mittlerweile auch nochmal ordentlich verändert.
Die digitalen Möglichkeiten und damit auch der visuelle Druck auf die Jugend sind ja enorm geworden. Jetzt kommt auch die Angst vor Umweltkatastrophen dazu. Wird dieses Suizidthema eigentlich immer brisanter?
Mit Sicherheit. Wir haben viel Material gelesen und uns mit Krisen auseinandergesetzt, gerade wenn diese Krisen im Jugendalter passieren. Studien belegen, dass gerade auch nach Krisen wie jetzt der Pandemie die Suizidrate steigt. Heute haben wir die Möglichkeit, jederzeit alle möglichen Nachrichten zu empfangen und so entsteht ein ordentlicher Druck, der insbesondere ausgeübt wird in jungen Leben.
Es ist ein reines Zweipersonen-Stück?
Genau. Wir haben zwei Schauspieler:innen auf der Bühne, Paul Heimel und Paula Schäfer. Die spielen Julie und August, diese zwei jungen Erwachsenen, die sich im Internet verabreden, um sich gemeinsam in Norwegen umzubringen.
Wie inszeniert man denn in der kleinen Bühne am Wuppertaler Engelsgarten den dafür vorgesehenen großen Felsen am Meer?
Wir haben uns absolut gegen den großen Stein entschieden und haben das Ganze eher in einen abstrakten Raum versetzt, eher in eine Art Warteraum. Wir haben uns auch dazu entschieden zu behaupten, das sei bereits alles passiert. Die beiden erzählen, spielen und fühlen das jetzt nochmal nach für das Publikum. Das heißt, dieser Raum hat keine definitive Verortung, weil es am Ende ja diese große Entscheidung gibt, ob sie es machen oder nicht, das bleibt im Text ja offen. Also könnte es der Warteraum einer Klinik, aber auch der Wartesaal zum Himmel oder zur Hölle sein. So haben wir auch eine gewisse Distanz und könnenDinge, die junge Erwachsene sagen, anders wahrnehmen. Dafür haben wir uns entschieden.
In der realen Vorlage, auf die sich das Stück von Igor Bauersima bezieht, sterben die beiden aber zum Schluss.
Ja es gibt eine wahre Begebenheit, ich glaube, das war eine Notiz im Spiegel. Aber Igor Bauersima lässt das offen.
Es gab auch eine Inszenierung, da musste das Publikum am Ende entscheiden. Das wird aber in Wuppertal nicht passieren?
In der Form nicht, nein. Aber ich glaube, wenn man das Ende offenlässt, muss das Publikum immer für sich entscheiden und mit einem eigenen Gefühl nach Hause gehen.
Sie zeichnen für Inszenierung, Bühne und Kostüm verantwortlich – nicht zum ersten Mal, wie ich weiß. Wie wichtig ist Ihnen das?
Ich mache Bühne und Kostüme dieses Mal mit Sarah Prinz zusammen, also wir sind zu zweit. Da der Raum so viel mit der Konzeption zu tun hat, ist es für mich immer schön wenn ich mitdenken, mitsprechen kann. Wir haben es dieses Mal aber zu zweit gemacht. Inszenierung, Bühne und Kostümemuss für mich immer eine Einheit ergeben, deshalb freue ich mich auch so, wenn ich die Möglichkeit habe, mich da auch einzubringen.
Wozu braucht das Stück eigentlich die Mystifizierung des Polarlichts?
Jetzt muss ich Sie enttäuschen. Wir haben das rausgestrichen.
Das ist auch eine Antwort. Wie politisch sehen Sie denn das Stück heute? Die Krankheit der Jugend, ähnlich wie bei Ferdinand Bruckner, ist auch heute die Perspektivlosigkeit in der Realität. Und digitales Brot kann man nicht essen. Schließen Sie das mit ein in die Inszenierung?
Ich würde sagen, wir behandeln das Thema Suizid auf jeden Fall politisch. Der Autor gibt wenig Hinweise darauf, warum die beiden bereit sind, ihr Leben zu beenden. Was ich gut finde, weil wir das Thema auch nicht als individuell-psychologisches Problem betrachten wollen, sondern uns eher mit Krisen auseinandersetzen, die dazu führen können, dass man sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft empfindet. Da haben wir zum Beispiel Normen, denen man gerecht werden muss, Rollenbilder, denen man nicht entspricht, solche Dinge eben. Das heißt, wir beschäftigen uns also eher mit den gesellschaftlichen Fragen. Was führt in einer Gesellschaft dazu, wo ist die Gesellschaft zu starr, aber was kann eine Gesellschaft auch tun? Und es stellt sich für uns auch die Frage: Wie frei ist so eine Entscheidung überhaupt?
„Ich war überall und den Rest hab ich in Filmen gesehen“, sagt Julie irgendwann im Stück. Ist auch Überdruss ein Suizidgrund?
Bei Julie tatsächlich. Ich würde das aber nicht unbedingt gesamtgesellschaftlich sagen. Suizid hat immer sehr viele verschiedene Faktoren. Natürlich ist Entscheidungsfreiheit auch immer Entscheidungszwang – klar.
Braucht das Stück im Engelsgarten eine Altersbeschränkung?
Ich denke, es ist wichtig, dass man das Thema endlich aus dem Tabu rausheben muss. Deshalb bin ich nicht für eine Altersbeschränkung.
Norway.today | Sa 20.1. 19.30 Uhr (P) | Theater am Engelsgarten, Wuppertal | 0202 563 76 66
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