Ist doch klar, an einem Dreispartenhaus, wie Wuppertal es hat, benötigt die Stadt auch ein Dreispa(r)tenkabarett. Warum mein Schreibprogramm da immer automatisch ein US-amerikanisches „Registered Trademark“ einfügt übersteigt meine Kenntnisse – aber mit Gummibooten kenne ich mich seit 1971 dank Gitte aus. Aber das da vorne auf der dunklen Bühne ist nicht knallrot, sondern gelb und das erste wichtige Requisit von Lumpp&Meier, die gleich ihr spitzes Feuerwerk „Vogelfrei“ ausgerechnet im Theater am Engelsgarten abfackeln wollen. Die beiden Kabarettistinnen, Julia Meier ist gerade im Wuppertaler Ensemble, beginnen mit einer Slapstick-Performance zu Schwanensee im Schlauchboot, am Schlauchboot und um das Schlauchboot herum, alles gekonnt dauerhaft auf Spitzenschuhen (Respekt) und mit einer Grandezza an spitzbübischem (darf man das noch sagen?) oder besser spitzmädelschem Witz. Ist das schon respektlos dem ollen Pjotr Iljitsch Tschaikowski gegenüber oder eher den Primaballerinas, die die gute Odette getanzt haben? Egal, das Publikum amüsiert sich köstlich und mehr muss so ein Schlauchboot auf einer vernebelten Bühne ja auch nicht hergeben.
Der Abend der beiden ist eine gelungene Mischung aus Gesang, Comedy und Ausflügen in die Kritik an der patriarchalen Gesellschaft, an zeitgenössischem Gendern und den unterschiedlichsten Rollen der Frauen an sich. Nummer reiht sich an Nummer und Höhepunkt an Höhepunkt. Beide sind Preisträgerinnen des Bundeswettbewerbs Gesang – Marie-Anjes Lumpp ist in den letzten Jahren auch immer wieder in großen Musicalproduktionen engagiert gewesen – und haben den Abend gemeinsam konzipiert und arrangiert. Und der ist insbesondere wegen seiner liebevollen Details außergewöhnlich, allein die dauerhaft blutigen Zehen unter den weißen Trikots sind den ganzen Abend über witzig und immer wieder ein Hingucker. Der Running Gag in Wuppertal ist der endlose (gekonnt hinterhältige) Versuch von Marie-Anjes, sich im Dreispartenhaus einzuschleimen. Da werden der Intendant umgarnt, die Symphoniker bestochen und immer wieder muss sich das Ensemblemitglied Julia wehren und den Abend wieder in die korrekten Bahnen einer improvisierten Probe lenken. Wiederholt tauchen (echte) Bühnenarbeiter auf, die hier und da was richten, eine sinnlose Schraube per Akku einschrauben oder Leinwände hoch und runter ziehen. Unbedingt erwähnenswert in diesem technischen Zusammenhang: Alle Texte, Lieder und Songs an Klavier und unhawaiianischer Ukulele, selbst Dramaturgie und insbesondere die außergewöhnlichen Choreographien außerhalb der Tanzeinlagen, haben die beiden selbst entwickelt. Natürlich geht es auch um Liebe und die Suche nach der Weiblichkeit und die Weltlage bleibt eben selbst eine ewige Komödie. Zwischendurch verulkt frau das italienische Partisanenlied „Bella Ciao“ wieder im gelben Schlauchboot (großes Kino, äh Theater!), indem Marie-Anjes aberwitzige deutsche Übersetzungen produziert, die dem Publikum den Atem nehmen. Dann ist Pause, die Requisiten müssen umgeräumt werden, ein Schlückchen hinter der Bühne und im Foyer, dann geht die wilde Hatz auch schon weiter – von kultureller Aneignung und gender-specific speech auf einem Feuerwehr-Bobbycar über Britney Spears auf der Ukulele bis zur Doppel-Nasenflöte. Dass sich Pina Bausch als Wilhelmine Klemm (eigentlich Mechthild Großmann) herausstellt, ist mehr so ein ZDF-Insiderwitz. So what. Prima Abend.
Lumpp&Meier: Vogelfrei | So 8.1. 16 Uhr | Theater am Engelsgarten, Wuppertal | 0202 56 37 666
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Es geht auch darum, wer der Stärkere ist“
Regisseur Peter Wallgram über „Monte Rosa“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 11/24
„Im Stück steckt ganz viel Politik drin“
Regisseurin Barbara Büchmann über „Der einzige Mann am Himmel bin ich“ in Wuppertal – Premiere 10/24
Märchenhafte Rollenverteilung
„Es war einmal…“ am Schauspiel Wuppertal
„Wir sind eher im sozialkritischen Drama zuhause“
Regisseur Peter Wallgram über „Woyzeck“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 06/24
„Eine Geschichte, die keinen Anfang und kein Ende hat“
Die Choreograph:innen Thusnelda Mercy und Pascal Merighi über „Phaedra“ in Wuppertal – Premiere 05/24
Teuflischer Plan
Senecas „Phaedra“ am Theater am Engelsgarten – Prolog 04/24
„Das Klügste ist, dass man die Polizei gar nicht sieht“
Anne Mulleners inszeniert „Falsch“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 03/24
„Wir haben uns absolut gegen den großen Stein entschieden“
Regisseurin Hannah Frauenrath über „norway.today“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 12/23
„Es geht darum, was es heißt, politisch aktiv zu werden“
Jenke Nordalm inszeniert Thomas Köcks „Klimatrilogie“ im Theater am Engelsgarten – Premiere 09/23
„Zu Theater gehört Wagnis und Experiment“
Intendant Thomas Braus über die neue Saison am Schauspiel Wuppertal – Premiere 08/23
„Thomas Mann tut es gut gekürzt zu werden“
Henri Hüster spricht über seine Inszenierung des Zauberbergs – Premiere 04/23
Das bleibt, wenn die Masken fallen
„Die Wahrheiten“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 11/22
Schäferwagen und Hexenhaus
„Hänsel und Gretel“ am Opernhaus Wuppertal – Auftritt 11/24
Ohne Firlefanz
Premiere von „Salome“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
„Macht und Machtspiele“
Intendant Thomas Braus über die neue Spielzeit am Wuppertaler Schauspiel – Premiere 09/24
Zahlreiche Identitäten
6. Hundertpro Festival in Mülheim a.d. Ruhr – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Weltstars in Wuppertal
Größen der Rock- und Pop-Szene gastieren im LCB – Porträt 07/24
Unterhaltsame Kurzweil
„Die lustigen Weiber von Windsor“ am Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 07/24
„Schauspielerfahrung schult perspektivisches Denken“
Schauspieler Thomas Ritzinger hat mit „Die letzte Nachtschicht“ einen Roman geschrieben – Interview 07/24
Bewegte Geschichte
Soziokulturelles Zentrum Die Börse in Wuppertal – Porträt 06/24