Weit vor der eigentlichen russischen Revolution befand sich die Intelligenzija, oder besser die, die sich dafür hielten, bereits in Isolationshaft. Und besonders prickelnd, sie hatten sie sich selbst verordnet. Schutz vor dem Pöbel da draußen, Schutz vor Schmutz und Ekel, Schutz, bis die Zukunft endlich beginnen konnte – und in dieser Zukunft war nicht mehr so viel Platz für alle. Getäuscht haben sie sich da nicht, nur das Ergebnis sah etwas anders aus als gehofft. Genau dieses Procedere beschreibt Maxim Gorkij in seinem Stück „Kinder der Sonne“, gezeigt wird es im Wuppertaler Theater am Engelsgarten. Mit Untertitel: „Die Menschen behandeln einander wie Vieh, alle Ideen werden von ihnen zertreten“. Historisch belegter Anlass war der sogenannte Choleraaufstand von 1882.
In Wuppertal ist das Haus des Wissenschaftlers Pawel Fjodorowitsch Protassow (Alexander Peiler) an der Wolga Dreh- und Angelpunkt für die Auseinandersetzung über den neuen Menschen. Es ist Fluchtpunkt der Schickeria, ein Sehnsuchtsort der neuen Reichen, aber auch Hort für eine gewisse Form von überholten Manieren. Manieren, die im weiteren Verlauf hinderlich werden könnten, denn draußen kämpft die Bevölkerung gegen eine Epidemie. Regisseurin Helene Vogel inszeniert auf einer Drehbühne, die auch als Karussell der ungeläuterten Gefühle fungieren könnte: Protassows Frau Jelena Nikolajewna (Tinka Fürst) fühlt sich vernachlässigt und bändelt aus Langeweile mit dem Maler Dmitrij Sergejewitsch Wagin an, Protassows psychisch angeschlagene Schwester Lisa (Philippine Pachl) zu spät mit dem Veterinär Boris Nikolajewitsch Tschepurnoj (Stefan Walz). Dessen Schwester Melanija (Julia Resnik) hat dagegen ein Auge auf Protassow selbst geworfen. Umworben wird auch das Dienstmädchen Fima (Ann-Kristin Lutz) vom Neureichen Nasar Awdejewitsch (Miko Greza). Puh. Und so (s)witschen sie herein, herum und wieder heraus, eine unaufhaltsame Choreografie ins Unheil, nur bemerken sie das natürlich nicht, denn sie denken nur an Forschung und Lehre, an Heil und Zukunft ohne Reue, an ihre kleinen und großen Liebschaften, ans Weiterkommen, ans Geld.
Das macht dieses Stück russische Selbstbefindlichkeit wahrscheinlich aktuell. Helene Vogel verweigert sich in ihrer Inszenierung allerdings ein wenig den brisanten politischen Verhältnissen, ab und an kommt die Außenwelt zur Sprache, selbst die Rohheit des Schlossers Jegor (Marian Christopher Reinhardt) wird ausgiebig thematisiert, der baut schließlich tolle Maschinen und prügelt seine Frau, übel übel, aber als Handwerker nicht verzichtbar, so ist die Intelligenzija eben und ihr Ende eigentlich nicht bedauernswert: Die Dialoge thematisieren die freiheitlichen Ideen, die zu Gorkijs Zeit am Volk vorbei diskutiert wurden, im Haus finden der Chemiker und seine Frau irgendwie wieder zusammen, Dienstmädchen Fima („lieber das Geld nur von einem Freier“) verbessert sich finanziell mit dem alten Sack Nasar, aber natürlich nur temporär. Und das alles passiert in einem sich drehenden gläsernen Kasten, ein Glashaus in dem sie auf Stühlen und im Garten auf Bänken sitzen und ihre kruden Lebensbedingungen verhandeln, mittendrin auch Antonowa (Lilay Huser), die russisch singende Kinderfrau, die krampfhaft versucht das alte feudale System aufrechtzuhalten.
Darin hat die Farbe Rot natürlich nichts zu suchen, rot ist die Farbe des Aufruhrs, des Bösen da draußen, Lisa kann nicht einmal den Klang des Wortes ertragen, obwohl sie als einzige die Veränderungen spürt und eine Regung für die sterbenden Menschen außerhalb des Glashauses besitzt. Sie hat fast eine Kassandra-Funktion, sieht Dinge kommen, ahnt die Veränderung. Doch sie glaubt nicht an Bindung und treibt so den verliebten Veterinär Boris in den Selbstmord und sich im roten Kleid in den Wahnsinn. Ob daran auch Nina und Mike und ihr Schlager „Kinder der Sonne“ schuld sein könnten, ich wage nicht darüber nachzudenken. Die Eskalation ist jedenfalls da. Der Mob dringt ins Haus. Den letzten Satz hat auch Lisa: „Ihr tut mir leid, sehr, sehr leid.“
„Kinder der Sonne“ | R: Helene Vogel | Do 30.6. 19.30 Uhr | Theater am Engelsgarten, Wuppertal | 0202 563 76 66
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