Am Anfang steht die choreografische Suche der Faust-Homunkuli nach dem Sinn des Lebens, eingepfercht in ein kleines Zimmer. Wer weiß schon „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Der Herr Geheimrat war sich damals nicht sicher, viele sind es heute auch nicht. Durchmischte Maskenlage also im Wuppertaler Engelsgarten-Theater.
„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche. Durch des Frühlings holden, belebenden Blick; Im Tale grünet Hoffnungs-Glück“. Vor dem Tore geht es los in Nicolas Charaux’ Inszenierung von Goethes „Faust“. Von österlichem Grün ist im Bühnenbild allerdings nichts zu spüren, Peter Paul Rubens’ (1577-1640) „Gewitterlandschaft mit Jupiter, Merkur, Philemon und Baucis“ beherrscht die Optik. Das alte Ehepaar mit seiner ärmlichen Hütte irgendwo in Phrygien taucht beim Dichterfürsten allerdings erst im fünften Akt des „Faust II“ auf und bei Zwangsumsiedlungen sind wir ja noch nicht, obwohl – mehr als 110 Minuten wird die zeitgenössische Version, wie immer in solchen Fällen sehr zum Leidwesen älterer Deutsch-Oberstudienräte, nicht dauern, da muss ordentlich gestrichen werden. Und schon sind wir auf der drehbaren Bühne fix im Prolog im Himmel und die beiden Zocker machen ihre Wette klar, das Sechserpack Faust performt: „Es irrt der Mensch, solang er strebt“, ein minimalistisches Repeat-Setting mit Orffschen Anklängen.
Charaux beginnt die 1808 veröffentlichte Tragödie auf einem heißen Ofen so lange zu kochen, bis aus der Reduktion die wertvollsten Inhaltsstoffe extrahiert werden können. Dass sein Ensemble dieses hintersinnige Dampfgaren bedingungslos mitgeht, sich durch kunstvolle Choreografien wimmelt, die Figuren mischt, singt und springt, als ob der Teufel, sorry – Mephisto selbst die Ingredienzien aus dem Gedünsteten gefischt hat, ist bewundernswert. Dass Faust in Wuppertal nicht nur die üblichen „Habe ach“-Sturm und Drang-Fächer von Philosophie bis Medizin, sondern auch alle anderen (naja nicht ganz alle) zeitgenössischen Studien zwischen Raumfahrttechnik und Informatik hinter sich gebracht hat, bevor er nur noch den Suizid als Ausweg sieht, macht die Story munter, aber nicht außergewöhnlicher. Das Gleiche gilt für die Referenz an Gustav Gründgens Jahrhundert-Mephisto am Hamburger Schauspielhaus 1960. Absolut grandios ist die Gretchen-Tragödie, die Charaux vor und hinter dem Faden-Vorhang als eine Art Puppenspiel mit Echtzeit-Synchronisation inszeniert. Julia Meier und Maditha Dolle müssen alle Dialoge und Sprachklänge imitieren, eine Mammutaufgabe, die sie brillant lösen, selbst der Blocksberg ist keine Hürde und auch nicht Gretes Ende.
Dann endlich ein Hüpfer in die Tragödie Zweiter Teil und die bereits angekündigte Geschichte von Philemon und Baucis. Die beiden widersetzen sich Fausts Größenwahn, der für Arkadien alle oligarchischen und kapitalistischen Register zieht, selbst für den Aufschwung Geld in Massen druckt (sehr zeitgenössisch!) und Land benötigt. Doch das alte Ehepaar steht der Zwangsumsiedlung im Wege und wird deshalb umgebracht. Dafür wird dann eben Helena aus der Unterwelt beschworen und Sohn Euphorion gezeugt, der aber am Ende des Dritten Aktes zu Tode stürzt und seine letzten Worte herauspresst: „Lass mich im düstern Reich, Mutter nicht allein!“ Die Düsternis bleibt. Aus dem Theater wird ein Lichtspielhaus. Pathetisch und filmisch geht die Welt zugrunde. Ich zitiere mal Zen-Meister Huang Po: „Dass es nichts zu erreichen gibt, sind keine leeren Worte, sondern die allerhöchste Wahrheit.“
Faust | R: Nicolas Charaux | 4.12. 19.30 Uhr, bis 25.3.22 | Theater am Engelsgarten, Wuppertal | 0202 563 76 66
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Es geht auch darum, wer der Stärkere ist“
Regisseur Peter Wallgram über „Monte Rosa“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 11/24
„Im Stück steckt ganz viel Politik drin“
Regisseurin Barbara Büchmann über „Der einzige Mann am Himmel bin ich“ in Wuppertal – Premiere 10/24
Märchenhafte Rollenverteilung
„Es war einmal…“ am Schauspiel Wuppertal
„Wir sind eher im sozialkritischen Drama zuhause“
Regisseur Peter Wallgram über „Woyzeck“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 06/24
„Eine Geschichte, die keinen Anfang und kein Ende hat“
Die Choreograph:innen Thusnelda Mercy und Pascal Merighi über „Phaedra“ in Wuppertal – Premiere 05/24
Teuflischer Plan
Senecas „Phaedra“ am Theater am Engelsgarten – Prolog 04/24
„Das Klügste ist, dass man die Polizei gar nicht sieht“
Anne Mulleners inszeniert „Falsch“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 03/24
„Wir haben uns absolut gegen den großen Stein entschieden“
Regisseurin Hannah Frauenrath über „norway.today“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 12/23
„Es geht darum, was es heißt, politisch aktiv zu werden“
Jenke Nordalm inszeniert Thomas Köcks „Klimatrilogie“ im Theater am Engelsgarten – Premiere 09/23
„Zu Theater gehört Wagnis und Experiment“
Intendant Thomas Braus über die neue Saison am Schauspiel Wuppertal – Premiere 08/23
„Thomas Mann tut es gut gekürzt zu werden“
Henri Hüster spricht über seine Inszenierung des Zauberbergs – Premiere 04/23
Sie haben ein knallgelbes Gummiboot
„Vogelfrei“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 01/23
Schäferwagen und Hexenhaus
„Hänsel und Gretel“ am Opernhaus Wuppertal – Auftritt 11/24
Ohne Firlefanz
Premiere von „Salome“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
„Macht und Machtspiele“
Intendant Thomas Braus über die neue Spielzeit am Wuppertaler Schauspiel – Premiere 09/24
Zahlreiche Identitäten
6. Hundertpro Festival in Mülheim a.d. Ruhr – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Weltstars in Wuppertal
Größen der Rock- und Pop-Szene gastieren im LCB – Porträt 07/24
Unterhaltsame Kurzweil
„Die lustigen Weiber von Windsor“ am Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 07/24
„Schauspielerfahrung schult perspektivisches Denken“
Schauspieler Thomas Ritzinger hat mit „Die letzte Nachtschicht“ einen Roman geschrieben – Interview 07/24
Bewegte Geschichte
Soziokulturelles Zentrum Die Börse in Wuppertal – Porträt 06/24