Was niemand vermutet hätte: Es gibt auf dem Planeten Parallelwelten, deren Zugang reglementiert wird und dennoch jedermann offen stehen. Dass es tatsächlich so viele sind, konnte jetzt im Wuppertaler Opernhaus wahrgenommen werden. Die Zuschauer sitzen auf der Bühne, die Schauspieler im Saal, das Stück selbst spielt auch hinter riesigen Leinwänden und beschreibt die Parallelwelt des Kapitals und des schnuckeligen schattenhaften Umgangs mit ihm. Wer noch nicht weiß, wohin mit dem Ersparten, nach diesem Abend sollte er es wissen: an die Börse damit, gelernt werden muss nur der richtige Zeitpunkt des Absprungs.
Marcus Lobbes hat „JR“ inszeniert, eine auf den ersten Blick lockere Farce nach William Gaddis gleichnamigen Roman. Der stammt von 1975 und das merkt man dem Stück auch an. Gaddis beschrieb die Vision eines entfesselten Kapitalmarkts in den Vereinigten Alpträumen von Amerika, damals wie heute ein System ohne Schranken, dass nur eine Devise kennt und kannte: Kohle machen. Was damals bestenfalls als Rufe einer männlichen Kassandra hätte gelten können, hat sich bis heute potenziert und zwar fast bis ins Unendliche. Und dennoch. Die Substanz des Stücks reicht für nicht mehr als eine humorvolle Geschichte und vielleicht noch fürs Haare-Raufen bei Zuschauern, die übers Sparbuch nie hinausgekommen sind. Darüber hinaus nerven das VHS-Niveau der Dialoge, die den komplexen Vorgang des genialen Hantierens vom minderjährigen JR (er inspirierte immerhin eine amerikanische Serienfigur im Ölgeschäft) erklären und der naive Erzähler mit seinen „Erst wenn alle Flüsse vergiftet sind, und so weiter“-Einwürfen. Das Konzept, Kunst gegen Kapital auszuspielen geht nicht auf. Schon gar nicht über das letzte Bashing vor dem nicht vorhandenen Vorhang. Es waren nie die Optionsscheine oder Warentermingeschäfte der 1970er Jahre, die die Menschheit betrogen haben, es ist schon seit Jahrtausenden so, dass Geld Geld produziert. Es hilft nur, die Zinsen abzuschaffen. Und was die Geschichte eigentlich zeitlos macht: Sie würde auch noch funktionieren und tut das wahrscheinlich gerade. Denken wir nur an den ehemaligen Börsenguru Bernard Madoff, der schmale 50 Milliarden Dollar von den gierigen „Investoren“ abschöpfte und wahrscheinlich ähnlich gehandelt hat wie Gaddis JR oder jüngst an die Pleite von Prokon, die auch gespeist von geldgierigen Privatanlegern das Schneeballprinzip nicht durchhalten konnten.
Ansonsten ist die Inszenierung der Systemkritikin der Fassung von Tom Peuckert ziemlich sehenswert. Lobbes impft die handelnden Personen mit Geld, erweckt sie so zum Leben, aus dem Schattendasein hinter den 1970er Diaserien und Filmsequenzen, die an Jakob Holdt denken lassen. Die endlosen Dauerdialoge sind dem Roman geschuldet, die Choreografie beispielhaft zwischen Standbild und Bewegung. Dazwischen ein perfekt gecasteter Helgi Schmid, dessen unschuldige Stringenz den Finanzskandal ins Rollen und Wanken bringt, Lobbes zeigt die Handlung in Wellen, erzeugt eine Performance ohne Realtime, ein theatralischer Balkenchart auf der Hinterbühne, indem die Protagonisten Schriftsteller, Komponist und Kinderspekulant ihr Auf und Ab erleben. Als die Börsenaufsicht das „Alles was geht“-System des kleinen Jungen hinterfragt, Zivilklage und Finanzamt drohen, da bauen die Bühnenarbeiter die pseudoreale Welt eben wieder ab. Requisite für Requisite, Stellwand für Stellwand verschwinden, das Publikum sitzt im Scheinwerferlicht, den Saal im Opernhaus als Kulisse. Und da sitzen sie nun, die eigentlichen Protagonisten, die mit ihrem Kapital die meisten Skandale erst möglich machen. Die Schauspieler fläzen sich derweil in den oberen Rängen, nehmen den Applaus hin, JR hat schon wieder ein Modell entdeckt, wo es 70 Hektar Land geschenkt gibt, irgendwann …, ja irgendwann fliegen wieder die Löcher aus dem Käse, wenn überhaupt noch welche da sind.
„JR“ | Opernhaus Wuppertal | Infos: 0202 563 76 66
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