Albert Camus (1913-1960) Literaturnobelpreisträger und früher Popstar unter den Philosophen, veröffentlichte das Stück 1944 in einem besetzten Land, „fern von allem, was ich liebe“. Er selbst bezeichnete „Das Missverständnis“ als „ein Stück der Auflehnung“ mit einer Moral: Aufrichtigkeit.
engels: Herr Kindervater, wieder mal Zeit für Existentialismus?
Martin Kindervater: Ja, finde ich schon. Jetzt ist tatsächlich eine Zeit für Existentialismus. Diese Frage nach dem Sinn des Lebens ist ja eigentlich nicht beantwortbar, aber die Zeit, wo wir diese Frage im Geist der Postmoderne ironisch belächelt haben, die kommt gerade an ihr Ende. Wir haben wieder eine Zeit, in der es realistische Endzeitszenarien gibt, wo der Klimawandel eine echte Bedrohung darstellt und man trotzdem das Gefühl hat, es interessiere eigentlich keinen. Dazu geraten unsere politischen Systeme auf einmal in eine Situation, in der Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden. Da stellen sich Leute natürlich wieder mit einer neuen Ernsthaftigkeit die Frage nach dem Sinn des Ganzen und das Gefühl dazu ist wieder vergleichbarer zu der Zeit der unsicheren 1950er Jahre. Natürlich unter ganz andere Vorzeichen, aber ich glaube doch, es ist jetzt wieder eine existentialistischere Zeit.
Könnte man sagen, auch wenn man sich das Stück von Albert Camus anschaut, das die Herrschaft des Verbrechens als Alternative zur Ordnung an sich gilt?
Das Verbrechen ist eine Option in dieser Welt. Aber man hat immer die Wahl zwischen Bösem und Gutem. Man kann diese Wahl bewusst treffen, doch man muss sich darüber ein paar Gedanken machen. Denn das ist nicht so festgefügt wie man denkt. Ich würde also sagen, nicht die Herrschaft des Verbrechens an sich ist die Alternative, aber die Möglichkeit der Herrschaft des Verbrechens.
Und das Leid der Welt bleibt ja auch immer aktuell.
Das bleibt aktuell, geht nicht weg, ist immer da. Das auszuhalten ist ja die Herausforderung und dabei nicht wegzugucken. Was ein ganz wichtiger Aspekt ist, den ich bei Camus interessant finde, ist die Tatsache: Verdrängung bringt nichts. Das Aushalten ist quasi der Schlüssel. Den Gedanken finde ich sehr gut, auch Widersprüche müssen ausgehalten werden, und man soll sich trotzdem die kleinen Räume suchen, in denen man Glücksmomente empfinden kann.
Und wie inszeniert man das Grauen hinter blinden Scheiben?
Vor allem mit nicht zu großer Ernsthaftigkeit und schon gar nicht mit erhobenem Zeigefinger. Sondern auch mit Spaß und auch Spaß am Genre. Weil „Das Missverständnis“ ist zuletzt nicht nur moralisch – es hat natürlich ernste Grundströme – aber es ist auch ein Stoff, der wunderbar geeignet ist, um mit vielen Genre-Versätzen zu arbeiten. Da ist der klassische Psychothriller drin, die Horrorklamotte, aber auch die griechische Tragödie. Das wird also auch ein lustvoller Ritt durch die Theatergeschichte und das macht uns gerade bei den Proben sehr viel Spaß.
Wird die Gattin des verlorenen Sohnes, die ja ohnehin schon immer ein ungutes Gefühl hatte, in der Wuppertaler Inszenierung durch Mehrfachbesetzung aufgewertet?
Die Maria ist bei uns schon fast eine überirdische Existenz. Die ist in ihrer absoluten Liebe schon fast absurd. Aufgewertet dadurch, dass sie bei uns mysteriös daherkommt. Aber nicht unbedingt, dass sie jetzt die Lösung darstellt.
Und der alte Knecht bleibt die surreale Figur im Stück?
Aus meiner Sicht ist der ein Gegenpol von der Maria. Sie stehen eigentlich beide für Klarheit schaffen im Leben und das auch immer wieder aussprechen. Das sind auch die Pole, zwischen denen man sich bewegt, denn eigentlich stehen die für eine Lösung. Der Knecht ist so ein bisschen der Gott in dem Ganzen. Aber bei uns ist es ein ziemlich verwahrloster Gott und so ist der auf jeden Fall eine surreale Figur und nicht so richtig von dieser Welt. Andererseits gibt es so viele Leute, die man im Alltag sieht, so dass ich denke, der wäre durchaus anschlussfähig ans Hier und Jetzt.
Und am Ende wird Gott sich wieder nicht erbarmen?
Das kommt darauf an, was man unter Erbarmen versteht. Der macht halt, was er will. Aber Gott ist eben auch nur eine menschliche Vorstellung. Nur so viel vorab: Gott bleibt nicht der, der er ist.
Aber Jan wird hier natürlich in der Wupper ertränkt?
Fast. Da würde ich mich überraschen lassen. Vielleicht ist es Wupperwasser, mal schauen.
Wuppertal ist nicht involviert? Ist ja immer die Frage, wo man das Stück verortet.
Nein, das spielt nicht dezidiert in Wuppertal. Das ist eher so ein zeitloses Nichts. Aber da gibt es eine Assoziation, die mit meiner Inszenierung von Tennessee Williams „Die Glasmenagerie“ hier in Wuppertal verbunden ist.
„Das Missverständnis“ | R: Martin Kindervater | 3.November 18 Uhr | Theater am Engelsgarten Wuppertal | 0202 563 76 66
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