Brauchen wir heute noch ein Museum für Fotografie? Was wir brauchen, sind Orte, an denen über die Bilder reflektiert wird. Eine Aufgabe, die den Museen zufällt, die sie aber im Bereich der Fotografie nie wirklich angenommen haben. Das Museum Ludwig in Köln etwa besitzt umfangreiche Sammlungen, präsentierte diese aber nur stiefmütterlich. Mit dem Wechsel an seiner Spitze eröffnen sich auch für die Kuratorinnen neue Möglichkeiten, die Barbara Engelbach jetzt zum Beispiel dazu nutzt, die ungeliebte aber enorm einflussreiche Dokumentarfotografie aus der Zeit um die beginnenden achtziger Jahre zu präsentieren. Eine Richtung der Fotografie, in der Glamour, Hochglanz und Konsum komplett ausgeblendet bleiben. Eine Fotografie, die nicht verführen will. Denn auf diesen Bildern ist die reale Welt unseres Alltags zu sehen mit Parkplätzen, Einkaufszentren, Menschen in der U-Bahn, im Schwimmbad oder in ihrem Zuhause.
„Unbeugsam und ungebändigt: Dokumentarische Fotografie um 1979“ lautet der Titel, der schon Bezug nimmt auf Roland Barthes' 1980 geschriebenen Essay „Die helle Kammer“, in dem er wenige Tage vor seinem Unfalltod eine theoretische Bestimmung der Fotografie vollzog und von dem „Erwachen der unbeugsamen Realität“ in der Fotografie sprach.
Während die digitale Bildbearbeitung unserer Tage die Realität „beugt“, indem sie sie zu konstruieren versucht, erlebt die analoge Fotografie ein stolzes Revival. Zu sehen sind Kleingartensiedlungen in Essen vor Bürohäusern von Joachim Brohm, türkische Gastarbeiter im Kölner Volksgarten von Candida Höfer oder rote Gegenstände im Moskau des Boris Mikhailov. Man wird ständig daran erinnert, welche Autos damals gefahren wurden, welche Kleider man trug und vor allem, was die Menschen in den Zeiten der Ölkrise dachten.
Das ist das Kapital der dokumentarischen Fotografie, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, über die sie hautnah Informationen im Bild bietet. Deshalb enthält die Ausstellung mit ihren 13 Fotografenserien von Robert Adams bis Miyako Ishiuchi – die über die Maßen eng gehängt ist – auch ausführliche Texte zu den Künstlern.
Vom Untergeschoss geht es in die erste Etage zu einer zweiten Foto-Schau mit dem Titel „Das Museum der Fotografie: Eine Revision“. Die neue Kuratorin für Fotografie, Miriam Halwani, hat im Museum Ludwig die Bestände der Sammlung Stenger durchforstet, die bisher in Teilen unter der Bezeichnung Agfa-Historama gezeigt wurden. Erich Stenger (1878 – 1957), Professor für Chemie in Berlin, hatte mit der Pedanterie eines beamteten Enzyklopädisten Material für ein Museum der Fotografie gesammelt. Den Bildschatz, der dabei zustande kam, kategorisierte er in solch absurde Gattungen wie Raketen-, Drachen- oder Brieftaubenfotografie.
Stenger, der später den Nationalsozialisten nahe stand, beharrte stets darauf, dass die Fotografie ein technisches Medium und keine Kunst sei. Miriam Halwani widerlegt ihn, indem sie Gattungskomplexe mit ein paar eingrenzenden Linien zusammenhängt. Dann sieht man etwa unter „Architekturfotografie“, wie jemand ein paar Häuser abgelichtet hat, oder ein Fotograf die Tiefe großartiger Kirchenräume mit der Kamera erfasst und schließlich Karl Hugo Schmölz nächtliche Lichtarchitektur mit fast abstrakter Perfektion ins Bild setzt. Stenger war blind für die künstlerische Dimension, aber die Ausstellung fordert umso nachhaltiger dazu auf, Bilder zu lesen. Nicht nur die elektrisierend lebendigen Arbeiten eines Robert Adams bieten die Gelegenheit, unsere Realität mit ihrer ungeschönten Lebendigkeit konkret von außen zu betrachten. Es bleibt zu hoffen, dass uns das Museum Ludwig auch in Zukunft öfter einmal diesen Blick in seine fotografische Schatztruhe ermöglicht.
„Unbeugsam und Ungebändigt: Dokumentarische Fotografie um 1979“ | „Das Museum der Fotografie. Eine Revision“ | bis 5.10. | Museum Ludwig | 0221 221 26 16 5
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