Die Archäologie geht mit der Zeit. Nur Schätze verschollener Kulturen ausbuddeln, das war einmal. Mittlerweile beackert man auch jüngere Forschungsfelder. Das Industriezeitalter beispielsweise. Die Archäologie der Moderne schaut in den Boden unter unseren Füßen und entdeckt dort beim Haus- und Straßenbau verborgene Mauerreste oder Dinge im Weltkriegsschutt. Ausgrabungsfunde aus den letzten zwei Jahrhunderten bergen faszinierende Erkenntnisse über das wechselvolle Leben an Rhein und Ruhr, die in keinem Geschichtsbuch stehen. Um solche Relikte, deren Erforschung und Entschlüsselung geht es in der Galerieausstellung im Ruhr Museum: um jüngste Geschichte und Geschichten – aus der Stadt Essen, dem Ruhrgebiet und u.a. der rheinländischen Braunkohleregion.
Zugegeben: In der Ausstellungshalle glänzt kein Goldschatz. Wenig fürs Auge. Ernüchtert schaut es auf gleichförmige Vitrinen einer konservativen Präsentation: 81 Exponate, thematisch gruppiert in acht Kapiteln. Systematisch spröde. Die einzige Reminiszenz an zeitgemäßes Ausstellungsdesign sind ein paar digitale Bilderrahmen mit Fundortfotos. Unter Glas liegen Schlackebrocken, Scherben, Porzellanpuppenköpfe, ein rostiger Nachttopf aus einem Zwangsarbeiterlager, Leitungsrohre aus Holz, Schuhsohlenreste, der Propeller eines über der Essener Margarethenhöhe abgestürzten Kampfbombers neben einer völlig ramponierten Reiseschreibmaschine. Vieles existiert nur noch in Fragmenten, beschädigt, korrodiert, für Laien kaum zu identifizieren, doch höchst wertvoll für Wissenschaft und Kulturgeschichte.
Die Ausstellungsbereiche Industrie, Infrastruktur, Geschichte, Umwelt, Mensch, Nationalsozialismus und Krieg orientieren sich an den Forschungsschwerpunkten. Ein großes Thema ist Müll: In historischem Abfall finden Stadtarchäologen die zuverlässigsten Zeitzeugen. Absichtslos Weggeworfenes erzählt am ehrlichsten über Lebensumstände, objektiver als historische Dokumente und Erlebnisberichte. Da die Fundstücke nicht für sich sprechen, ist ansprechende Vermittlung gefragt.
Die Ausstellung besuchen, bedeutet: Exponate betrachten, rätseln, Erklärungen lesen, mit Vorwissen abgleichen und neu verknüpfen. Archäologen arbeiten ähnlich. Mit detektivischem Gespür können sie sogar nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten noch Verbrechen aufklären. Zum Beispiel das Schicksal des kanadischen Heckschützen Thomas D. Scott, der sich aus seinem über Erkrath abgeschossenen Halifax-Bomber zwar noch mit Fallschirm retten konnte, aber gefasst und umgebracht wurde. Etliche verrottete Metallteile, Tankanzeigen und eine unscheinbare Gurtschnalle halfen, den Flieger zu identifizieren, und veranlassten die Recherche nach der Besatzung. Ohne erläuternde Texte weiß man das alles nicht.
Die Ausstellung möchte mit einer facettenreichen Auswahl aus ihrem Fundus die jüngste Vergangenheit ins Bewusstsein rücken, Schlaglichter werfen und Neugier wecken auf mehr – ein Großteil der Hinterlassenschaften schlummert schließlich noch verborgen im Boden. Aber die Faszination für die junge und spannende Disziplin Archäologie der Moderne sollte man besser schon mitbringen.
Jüngste Zeiten. Archäologie der Moderne an Rhein und Ruhr | bis 7.4. | Ruhr Museum auf Zollverein, Essen | 0201 24 68 14 44
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