engels: Hallo Marvin, wie bist du zu deinem außergewöhnlichen Instrument gekommen?
Marvin Dillmann: Meine Oma lebt in Australien. 1995, als Elfjähriger, habe ich sie mit meiner Familie besucht. Damals hat im Hafen von Sydney ein Aborigine für die Touristen gespielt. Als kleiner Junge hat mich das total fasziniert. Der Mann hat mich dann irgendwann zu sich gewunken. Meine Oma sagte „Setz dich doch mal neben ihn“ – auch für ein Foto. Ich durfte probieren, mit dem Didgeridoo zu spielen und habe erst keinen Ton rausgekriegt. Daraufhin guckte er mich ernst an und ließ seine Lippen vibrieren. So habe ich es dann auch geschafft, meinen ersten Ton zu spielen. Das war ein Schlüsselerlebnis: Ich wollte unbedingt Didgeridoo-Spieler werden.
Wie bist du dann an ein eigenes Didgeridoo gekommen?
Noch in Australien hat mir meine Oma ein kleines Didgeridoo aus Bambus gekauft: ein Souvenir für Touristen. Man konnte aber schon ein paar Töne rausholen. Es stand dann immer neben meinem Bett und ich habe viel damit experimentiert und auch die Zirkularatmung geübt, mit der man einen unendlichen Ton erzeugen kann. Man benutzt die Wangenmuskulatur und drückt damit die Luft raus. Dann kann man für einen kurzen Moment durch die Nase einatmen. So bleibt der Ton bestehen. Vorher konnte ich nur 20 oder 30 Sekunden spielen ohne abzusetzen und auf einmal ging es unaufhörlich. Wenig später habe ich auch versucht, Rhythmen darauf zu spielen.
Wie kam es zu deinen ersten Auftritten?
Zuerst habe ich für Verwandte gespielt, zum Beispiel auf der Hochzeit meines Onkels. Das fanden alle ganz spektakulär. Mein Papa hat mir dann zwei hochwertige Didgeridoos aus Eukalyptusholz gekauft. Die werden von Termiten ausgehöhlt und klingen auch ganz anders. Über eine Bekannte habe ich dann Kalle Waldinger kennengelernt. Der organisiert das Schülerrockfestival. Dort hatte ich dann 1999 meinen ersten richtigen Auftritt, direkt vor drei- bis viertausend Leuten. Das war für mich ein tolles Erlebnis. Danach habe ich einige Auftritte auf Stadtfesten und bei Ausstellungseröffnungen bekommen. 2000 habe ich dann nochmal beim Schülerrockfestival gespielt, diesmal begleitet von Perkussion und Schlagzeug. Es gab damals eine Jury und für den ersten Platz wurde ein Plattenvertrag vergeben, den ich dann tatsächlich gewonnen habe. Ich konnte dann in einem super Tonstudio in Hamburg aufnehmen und hatte einige Fernseh- und Radio-Auftritte. Leider ist – nachdem die CD fertig produziert war – die Plattenfirma Pleite gegangen. Das war schon eine Enttäuschung. Zum Glück hatte ich mir in der Region schon einen Namen gemacht und habe weiter viele Auftritte bekommen.
Was hat deine Musik geprägt?
Ich habe viele erfahrene Musiker aus verschiedenen Genres kennengelernt, mit denen ich auch kooperiert habe – unter anderem Peter Kowald oder den Schlagzeuger Mickey Neher. Mit ihm hatte ich ein paar Auftritte und er hat mir einige Rhythmen beigebracht. Fürs Didgeridoo gibt es ja keine Noten. Es ist ein tonal eingeschränktes Rhythmusinstrument mit einem Grundton und Obertönen. Man kann keine Melodien damit spielen. Da konnte ich von einem Schlagzeuger viel lernen, was ich dann versucht habe, auf mein Instrument zu übersetzen. Durch das Spielen und Jammen mit anderen Musikern hat meine Musik eine andere Bandbreite bekommen. Ich versuche, die Grenzen, die das Instrument mit sich bringt, immer weiter auszudehnen, neue Sounds und Grooves zu entdecken und halte so auch die Begeisterung am Leben. Allerdings geriet ich damals, Anfang der 2000er-Jahre, dann auch erst in eine Identitäts- und dann in eine Sinnsuche.
Was denn für eine Identitätssuche?
Ich wurde als Kind immer gefragt, wo ich herkomme oder aus welchem Land meine Eltern kommen. Es hieß „Du sprichst aber sehr gut Deutsch.“ Ich bin ja Deutscher, normaler Wuppertaler, sehe aber dunkler aus. Da war immer dieses Fragezeichen. Im Teenageralter habe ich meine Mutter zur Rede gestellt. Sie hat mir dann gesagt: „Dein Opa ist ein deutschstämmiger Zigeuner.“ Mein Großvater und sein Vater haben Auschwitz überlebt. Die restliche Familie ist dort umgekommen. Und meine Mutter war als Nachkriegskind durch ihre schwarzen Haare und dunklere Haut schon in der Schule rassistischer Diskriminierung ausgesetzt. Sie hat dann versucht, ihren Sinti-Hintergrund zu verbergen. 2003 trat dann aus heiterem Himmel die Halbschwester meiner Mutter in unser Leben. Sie ist in der Sinti-Kultur aufgewachsen, lebt in Holland und macht dort Öffentlichkeitsarbeit für Sinti und Roma, um Vorurteile abzubauen. Durch sie habe ich dann auch mit verschiedenen Sinti- und Roma-Musikern zusammengespielt. Es wurde ein fehlendes Puzzlestück in meinem Leben hinzugefügt.
Und welche Sinnsuche?
Ich habe mich gefragt, ob das alles ist, – das, was wir sehen, anfassen und sinnlich wahrnehmen können – oder, ob es einen höheren Sinn gibt: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Und was ist das hier alles? Diese Fragen ließen mich nicht mehr los. Durch schicksalhafte Umstände habe ich dann meinen spirituellen Lehrer und Freund, Sheikh Hassan Dyck kennengelernt. Er ist ein deutscher Sufi-Lehrer. Sufismus ist islamische Mystik. Er ist selbst Musiker, studierter Cellist. Über zehn Jahre lang habe ich ihn auf Konzert- und Seminar-Reisen begleitet. Wir hatten viele Auftritte in Theatern und Yoga-Zentren in ganz Europa, sowie 2011 auch in Argentinien und Chile. Das waren wichtige Erfahrungen für mich. Durch den Sufi-Weg bin ich auch mit der Religion des Islam in Verbindung gekommen. Es war für mich eine logische Konsequenz, dann auch vor Zeugen das islamische Glaubensbekenntnis zu sagen. So bin ich Muslim geworden. Ich habe dann auch eine kleine optische Metamorphose durchgemacht. Ich fand dieses Outfit super, habe mir orientalische Pluderhosen geholt und mir einen Bart wachsen lassen. Ich war dann auch äußerlich als Moslem zu identifizieren. Ich habe den Eindruck, dass das in hier in der Kunst- und Kulturszene nicht alle so super fanden.
Wie meinst du das?
Ich habe gemerkt, dass ich weniger Auftritte hatte als vorher. Ich kann mir vorstellen, dass Menschen Berührungsängste hatten und sich gefragt haben: „Der ist konvertiert. Was geht in dem vor?“ Nach dem 11. September gab es eine große Angst vor dem Islam. Ich hatte auch einige komische Erlebnisse. Ich wurde zum Beispiel auf Reisen besonders kontrolliert. Ich saß mal mit einem Freund am Kölner Hauptbahnhof und hatte nach einer Veranstaltung mein Instrument dabei. Wir wurden von zwei Polizisten kontrolliert. Einer schaute länger meinen Ausweis an und wiederholte mehrfach meinen Namen. Ich sagte: „Ja, ich weiß, ich sehe nicht aus, wie der typische Marvin Dillmann“. Daraufhin sagte er „Ja, eher wie einer, der Bomben baut.“ Das fand ich schon ziemlich heftig. In den letzten Jahren hat sowas aber etwas abgenommen.
Zeitweise hast du auch Straßenmusik gemacht. Wie kam es dazu?
Schon ganz am Anfang, bevor ich Konzerte gegeben habe, habe ich hin und wieder Straßenmusik gemacht, um mir mein Taschengeld aufzubessern. So hatte ich innerhalb relativ kurzer Zeit das Geld zusammen, um mir eine CD zu kaufen oder ins Kino zu gehen. Viele Jahre habe ich das aber nicht gemacht. Irgendwann brauchte ich aber mehr Geld, um meine Wohnung zu finanzieren. Als Künstler ist das Einkommen schwankend. Ich wollte nicht zum Jobcenter und habe mir gedacht, ich mache lieber das, was ich kann und gerne mache auf der Straße. Ich habe also viel in Düsseldorf in der Altstadt und auch in Wuppertal gespielt. Der Zuspruch war immer super. Ich merkte aber, dass viele Bekannte daraufhin keine Lust hatten, zu meinen bezahlten Auftritten zu kommen. Es hieß: „Den Marvin können wir doch auch kostenlos auf der Straße sehen.“ Diese Entwicklung fand ich nicht so toll. Und auf Dauer ist die Straßenmusik auch ein sehr anstrengendes Geschäft. Man muss sehr spektakulär spielen, um innerhalb von kurzer Zeit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und zu binden, damit die Leute länger zuhören und was geben. Dann habe ich beschlossen, meinen Fokus mehr auf Konzerte und Aufnahmen zu richten.
Das hat ja gut geklappt. In den letzten Jahren hast du dann Konzerte vor 40.000 Menschen gespielt.
2017 habe ich die Gelegenheit bekommen, Bollywood-Star Arijit Singh auf Tour zu begleiten. Zuvor hatte ich den Jazzgitarristen Max Clouth kennengelernt, der vier Jahre in Indien gelebt hat und dort indische Musik studiert hat. Er hat mich dann an eine Agentur weitervermittelt, die für Arijit Musiker aus verschiedenen Kulturkreisen suchte – unter anderem einen Didgeridoo-Spieler. Die Agentur hat mich dann kontaktiert. Einige Wochen später war ich in einem Studio in Mumbai und habe Arijit dann kennengelernt. Nach einer zweiwöchigen Probenphase und einem ersten Konzert, gab es eine Tour, die von MTV India produziert, gefilmt und teilweise live ausgestrahlt wurde. Wir haben meistens open-air in Stadien gespielt, teilweise vor 40-50.000 Leuten. Daraus wurden mehr als zwei Jahre. Nach der Indien-Tour gab es Konzerte in Südafrika, Dubai, Katar, Kanada, und in der Wembley Arena in London. 2019 haben wir noch eine fünfwöchige USA-Tour gemacht. Die Konzerte außerhalb Indiens fanden in Hallen mit 10 bis 20.000 Zuschauern statt. Es waren immer riesige Shows und tolle Erfahrungen.
In diesem Jahr sah es vermutlich anders aus.
Arijit und sein Team planen ein Projekt immer für zwei Jahre. Nach der USA-Tour war die Zusammenarbeit eigentlich schon vorbei. Im Oktober 2019 hat mich das Management aber kontaktiert und gesagt, dass Arijit gerade eine neue Band zusammenstellt und er mich gerne wieder dabei haben möchte – zumindest für zwei Jahre. Ich wurde wieder nach Mumbai eingeflogen, war ein paar Wochen mit ihm und der neuen Band im Studio. Zwischen November und Februar hatten wir einige Konzerte. Es stand wieder eine große Indien-Tour an und Konzerte in England, auf Mauritius, in Neuseeland und auch in Australien, was für mich natürlich super gewesen wäre. Ich hätte gerne meine Oma, meine Tante und meinen Onkel eingeladen. Dann hat Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. Erst hieß es, dass die Konzerte verschoben werden. Aber man weiß auch nicht, wie es im nächsten Jahr aussieht. Die ganze Planung wurde über den Haufen geworfen. Seit März hatte ich nur zwei kleine Auftritte: einen Livestream und einen im Café Ada. Ansonsten wurde alles abgesagt oder verschoben. Finanziell ist das natürlich schwierig und ich hoffe, dass sich das im nächsten Jahr wieder lockert und es für mich auch international weitergeht.
Für die, die ihn nicht kennen: Wer ist Arijit Singh?
Hier sagt der Name nur den wenigsten etwas, aber er ist zurzeit der erfolgreichste indische Popsänger. In Indien ist die Musikindustrie an die Filmindustrie gebunden. Bollywoodfilme bestehen zu einem großen Anteil aus Musik. Die Schauspieler bewegen dazu aber nur ihre Lippen und im Hintergrund gibt es Sänger wie Arijit. 2013 wurde ein Song, den er für einen Film eingesungen hat, zu einem Super-Megahit. Daraufhin wollte jeder Filmproduzent mit ihm zusammenarbeiten. So ist er der erfolgreichste Bollywood-Playbacksänger geworden. Privat ist er ein ganz einfacher, sympathischer, der Musik hingegebener junger Mann, der keinerlei Starallüren hat, obwohl ihn so viele Menschen vergöttern, sondern auch mal in pyjamaartiger Kleidung mit seiner Gitarre abhängt und mit der Band jammt.
Du bist in verschiedenen weiteren Projekten aktiv. Kannst du diese skizzieren?
Ich habe ein Improvisations-Duo mit dem Pianisten Daniel Bark. Die Improvisation bietet sich bei meinem Instrument an. Ich finde es spannend, Dinge aus dem Moment heraus entstehen zu lassen. 2018 hatte ich noch das Album-Projekt „Ritual Bass – Blown Tube“ mit dem Produzenten Markus Kammann. Da lag der Schwerpunkt auf elektronischer Musik, EDM. Mein Didgeridoo wurde mit verschiedenen Elektro-Genres wie Drum N Bass, House und verschiedenen reggae-artigen elektronischen Sachen kombiniert. Spannend ist auch meine Arbeit mit dem israelischen Countertenor Yaniv d'Or. Das ist eine Kombination aus klassisch-barocker und orientalischer Musik. Wir haben 2018 unter dem Namen Ensemble NAYA ein Album namens „Exaltation“ herausgebracht. Die Premiere fand in der Wigmore Hall in London statt. Wir hatten auch einen Auftritt bei der BBC.
Wenn – wie Yaniv d'Or und du – Juden und Muslime gemeinsam arbeiten, schwingt oft auch eine politische Botschaft mit. Worum ging es bei dem Projekt?
Die Kernaussage in unserem Song „El Nora Alila (La ilaha illa Allah)“ und meine Überzeugung ist, dass wir alle – egal ob Jude, Christ oder Moslem – an den gleichen Gott glauben und, dass es nur einen Gott gibt, dessen Geschöpfe wir alle sind. Die Tradition der Sufis – oder eigentlich der Mystiker aller Wege – war es immer, Brücken zu bauen. So versuche ich auch einen kleinen Beitrag zu leisten und die Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen mehr in den Vordergrund zu rücken, sodass eine Verbindung entsteht. Am besten passiert das nicht durch theologische Debatten, sondern über das Herz. Und die Musik bietet da eine wunderbare Grundlage. Im gemeinsamen Singen, Tanzen, Musizieren und Zuhören steckt viel Potential für ein gemeinsames Erfahren. Musik hat die Kraft, den Zustand eines Menschen zu verändern. Das merkt man auch, wenn man ins Kino geht: Die Bilder haben eine Kraft, aber der Sound auch. Er wirkt auf das Bewusstsein und das Unterbewusstsein. Ich möchte, dass sich die Zuhörer besser fühlen, nachdem sie meine Musik gehört haben.
Kannst du den Sound deiner Musik beschreiben? Gibt es Merkmale, die durch die verschiedenen Projekte gleich bleiben?
Mein Didgeridoo-Spiel hat auf jeden Fall einen Wiedererkennungswert. Es ist sehr rhythmisch und kraftvoll. Ich lege Wert auf Intensität. In den letzten Jahren habe ich ja viel in Gruppen, Ensembles und Projekten mitgearbeitet und war da eher Gast- oder Begleitmusiker mit kleinen Solo-Parts. Ich suche, arbeite und experimentiere gerade an meinem ganz eigenen Sound. Neben der Improvisation interessiere ich mich auch vermehrt für elektronische Musik und glaube, dass man das Organische und das Elektronische gut kombinieren kann. Ich versuche, um das Didgeridoo etwas zu bauen, was abendfüllend ist. Da fließen meine Erfahrungen der letzten Jahre mit ein: die spirituelle Sufi-Musik, aber auch Tanzbares. Ich versuche, etwas zu entwickeln und arbeite momentan viel mit einer Loop-Station. Ich habe mir auch einen kleinen Drum-Computer und einen Synthesizer zugelegt. Ich bin in einem Prozess des Schaffens.
Hast du vor, auch ein eigenes Album als Marvin Dillmann zu veröffentlichen?
Das ist auf jeden Fall ein Ziel und ein Herzenswunsch. Ich mache mir da aber keinen Druck, weil man nicht sagen kann, wie viel Zeit man für so etwas braucht. Das ist ein Entstehungsprozess, wie wenn man ein Buch schreibt.
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