Mike Kelley macht es einem nicht leicht. Die Retrospektive zum Lebenswerk des amerikanischen Performance- und Installationskünstlers (1954–2012) zunächst auch nicht. Wer ins Untergeschoss des K21 runtergeht, steht erst desorientiert im Chaos. Aus dem „Off“ heulen Gespenster, „huh, buh“, ab und an übertönt von undefinierbarem Lärm und Angstgeschrei. Fahnen hängen unter der Decke, Bilder, Texte, Fotos an den Wänden, rätselhafte Dinge, wo man auch hinschaut. Den Portier vor dieser bizarren Geisterbahn gibt „The Banana Man“: bestehend aus einem giftgelben Overall mit zahllosen Taschen, gelbem Regenhut, langem Stoffband am Schritt – das Kostüm von Kelleys erster Videoperformance (1983), die man auf einem Monitor verfolgen kann. Der Videoschnitt ist gewollt verworren und voller Sprünge. Der Künstler stolpert als Kunstfigur durch Studio-Settings und Szenen wie „Autounfall“: Zwei Verletzte gibt es, doch der Bananenmann kann sich nicht entscheiden, wem er zuerst hilft, dem oder dem oder doch dem? Fahrig kramt er in seinen unzähligen Taschen, doch findet keine Entscheidung. Was als clowneske Albernheit daherkommt, rührt an tiefgründige, existenzielle Fragen und steht programmatisch für Kelleys Gesamtwerk, das die Ausstellung aufleben lässt.
Der chronologische Parcours durch acht Räume öffnet inspirierende Einblicke in den Denkkosmos eines subversiven Freigeistes, in Kelleys eigenwilligen, oft derben, anrüchigen Humor, hinter dem Abgründiges und Bedrohliches lauert. Zum Start taucht man ab in „Monkey Island“, eine kryptische Rauminstallation aus Relikten einer seiner berüchtigten Liveperformances, die nie gefilmt werden durften. Diese begann mit einem gefalteten Papier und Gegensatz-Wortpaaren und mündete in Welterklärungsmonologe und Publikumsverstörung. Wie war nur der Gedankengang? Erinnerung, echte und falsche, gehört zu den zentralen Themen des Künstlers – wie auch Körper im Raum, (junge) Menschen in der Welt und der Gesellschaft, Rituale, Träume und Traumata, Sichtbares, Unsichtbares und das Verschwinden. Kelley greift Bilder und Mythen der Sub- und Popkultur auf, verbindet multimedial Comic, Heavy Metal und Okkultismus und agiert als Kommunikator. Zeichnet, komponiert, inszeniert und filmt Performances mit Laien, die in Halloween-Kostümen Fotos aus alten Hochschuljahresbüchern nachstellen: sehr „trashig“! Seine Filminstallation „Day Is Done” (2006) sorgt für die Horrorlärmkulisse in der Ausstellung.
Der streng katholisch erzogene Sohn eines Schulhausmeisters aus Michigan liebte die Provokation, den unerwarteten Affront und das Spiel mit kollektiven Ängsten und Begehren. Weltweit bekannt wurde er für seine Arbeiten mit abgeliebten Stofftieren. Als man ihm hierfür Pädophilie oder erlebten Missbrauch unterstellte, war er selbst mal der Überraschte. Der letzte Raum zeigt Kelleys andere, melancholische Seite. Als geheimnisvoll illuminierter Sakralraum inszeniert, ist er eine Hommage an „Kandor“ (ab 2010), die Miniaturheimatstadt unter Glas, die Comic-Held Superman in seiner „Festung der Einsamkeit“ versteckt. Mike Kelley wählte den Freitod. Sein Werk bleibt enorm lebendig, sobald man sich darauf einlässt.
Mike Kelley. Ghost and Spirit | bis 8.9. | K21 Kunstsammlung NRW, Düsseldorf | 0211 838 12 04
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